Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm einfallen.

Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende.

Merkwürdig, sprach sie vor sich hin.

In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen, damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte, die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen.

Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum Schutze des Kindes zurückgelassen worden.

Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen, hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu beruhigen gewesen, vielleicht darum,

Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm einfallen.

Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende.

Merkwürdig, sprach sie vor sich hin.

In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen, damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte, die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen.

Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum Schutze des Kindes zurückgelassen worden.

Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen, hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu beruhigen gewesen, vielleicht darum,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="5">
        <p><pb facs="#f0076"/>
Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm                einfallen.</p><lb/>
        <p>Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende.</p><lb/>
        <p>Merkwürdig, sprach sie vor sich hin.</p><lb/>
        <p>In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war                ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich                wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen,                damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein                sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte                und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte,                die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da                sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen.</p><lb/>
        <p>Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug                von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als                Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum                Schutze des Kindes zurückgelassen worden.</p><lb/>
        <p>Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen,                hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu                beruhigen gewesen, vielleicht darum,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] Psalmes rein vergessen hatte. Auch nicht das leiseste Wörtlein wollte ihm einfallen. Was sagst du dazu, Babe? fragte er die regungslos Daliegende. Merkwürdig, sprach sie vor sich hin. In der Stube fand er außer zwei Kindern weder die Muhme noch ihren Mann; und das war ihm ganz recht, denn er hätte sich sonst zu sehr gefürchtet. Schnell wollte er sich wieder entfernen und das Päckchen mit Zucker und Kaffeh auf die Ofenkachel legen, damit die Augen der Muhme, wenn sie heimkehrte, sogleich darauf fielen, als ihn ein sonderbarer Umstand von diesem Vorhaben abgehalten. Das Kind in der Wiege erwachte und schrie; sein Weinen drang durch alle Räume des Hauses, so daß er immer meinte, die Muhme müßte es in der Kirche gehört haben und werde nun auch augenblicklich da sein, um das nach ihr begehrende Kind zu stillen. Allein läßt sie das Kind? fragte sich die alte Marjim fast unvernehmbar, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um ihre dünnen Lippen; er verschwand jedoch wieder, als Fischele weiter erzählte, wie sich noch ein älteres Mädchen da befunden, das zum Schutze des Kindes zurückgelassen worden. Umsonst hätte dieses aber versucht, das weinende Brüderchen in Schlaf zu bringen, hätte Schmeicheleien, süß wie Zucker und Honig, gebraucht, das Kind sei aber nicht zu beruhigen gewesen, vielleicht darum,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/76
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/76>, abgerufen am 23.11.2024.