Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing. Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh' lebendig vor dir da. Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten. Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter. Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der "Muhm' Dinah" gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing. Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh' lebendig vor dir da. Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten. Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter. Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der „Muhm' Dinah“ gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0075"/> <p>Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing.</p><lb/> <p>Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh' lebendig vor dir da.</p><lb/> <p>Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten.</p><lb/> <p>Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter.</p><lb/> <p>Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der „Muhm' Dinah“ gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0075]
Es lag eine so aufschreiende Angst in diesen Worten, daß das Kind, von innerem Grauen gepackt, zu zittern anfing.
Babe, sagte er weinerlich, du siehst ja, ich steh' lebendig vor dir da.
Ich seh's, ja ich seh's, lallte die alte Frau, erschöpft von dem letzten Sturme ihrer wildbewegten Einbildungskraft. Schwach sank ihr Haupt auf das Kissen zurück. Ihre Lippen zitterten leise, nur ein Engel hätte es gehört, wie die unausgesprochenen Worte: Gott sei Lob und Dank! darüber hinwegglitten.
Der Knabe begann nach Kindesart zu erzählen, ergriff erst das Fernliegende, kam dann auf das Nahe zurück, verband oft willkürlich Beides mit einander und gab bei dem Allen doch ein Gesammtbild seiner Sendung. Doch begriff ihn die Großmutter.
Er erzählte, wie er unter dem Geleite des ersten Psalmes, den er alleweil vor sich hergesagt, glücklich aus dem Hause und über die Straße zur Wohnung der „Muhm' Dinah“ gelangt war. Vor dem Hofthor lag der große schwarze Hund und fletschte ihn mit den weißen Zähnen an; dem Unthier war er mit dem ersten Verse des Psalmes vorbeigehuscht und stand nun, er wußte nicht wie, in der großen Stube. Wie es ihm da vorkam! Wie ihm die Haare, sagte er, auf dem Kopfe brannten! Merkwürdig war es nach seinen eigenen Worten, daß er mit dem Betreten des Hauses seiner Muhme die Bannungsformel des ersten
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/75>, abgerufen am 23.07.2024. |