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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Weiß ich denn nicht, Gott, Lebendiger im Himmel! begann sie wieder wehklagend, daß ich eine Sünde begeh', und hab' ich denn die ganze Nacht ein Aug' können zumachen, wie mir die Sünd' ist eingefallen? Was soll ich aber thun? Was soll ich anfangen? Hast du sie gestern gesehen, wie sie gekeucht hat unter dem schweren Sack, wie sie nicht hat aufstehen können? Ich bin ja doch die Mamm' und sollt' kein Mitleid mit ihr haben?

Stillbewegt lauschte Fischele auf die eigenthümlich verworrene Rede der Großmutter, die vielleicht nur er verstand.

Mein alter Kopf soll das unterscheiden können, fuhr sie fort, ob ich da eine Sünde begeh' oder nicht? Hab' ich Gemahra gelernt, daß ich das wissen soll? Nicht einmal fragen kann ich Einen, und dein eigener Vater, Fischele, möcht' Feuer und Flamm' werden, könnt' er nur das kleinste Wörtchen davon erfahren! Sag aber selbst, Fischele Leben, du bist ja auch ein Mensch, soll ich's thun oder soll ich's nicht thun?

Was denn? fragte erstaunt der Knabe.

Diese unschuldige Frage mußte der alten Frau ihr ganzes Bewußtsein zurückgegeben haben; sie mußte mit aller Klarheit, die der gereiften Seele eigen ist, ihre Lage überschauen, sich fühlen aufs Neue als die Großmutter des Kindes, das sie zu ihrem Rathgeber erwählt hatte! Ein namenloser Zug zuckte um ihre dünnen, blassen Lippen; aber mit großer Festigkeit im

Weiß ich denn nicht, Gott, Lebendiger im Himmel! begann sie wieder wehklagend, daß ich eine Sünde begeh', und hab' ich denn die ganze Nacht ein Aug' können zumachen, wie mir die Sünd' ist eingefallen? Was soll ich aber thun? Was soll ich anfangen? Hast du sie gestern gesehen, wie sie gekeucht hat unter dem schweren Sack, wie sie nicht hat aufstehen können? Ich bin ja doch die Mamm' und sollt' kein Mitleid mit ihr haben?

Stillbewegt lauschte Fischele auf die eigenthümlich verworrene Rede der Großmutter, die vielleicht nur er verstand.

Mein alter Kopf soll das unterscheiden können, fuhr sie fort, ob ich da eine Sünde begeh' oder nicht? Hab' ich Gemahra gelernt, daß ich das wissen soll? Nicht einmal fragen kann ich Einen, und dein eigener Vater, Fischele, möcht' Feuer und Flamm' werden, könnt' er nur das kleinste Wörtchen davon erfahren! Sag aber selbst, Fischele Leben, du bist ja auch ein Mensch, soll ich's thun oder soll ich's nicht thun?

Was denn? fragte erstaunt der Knabe.

Diese unschuldige Frage mußte der alten Frau ihr ganzes Bewußtsein zurückgegeben haben; sie mußte mit aller Klarheit, die der gereiften Seele eigen ist, ihre Lage überschauen, sich fühlen aufs Neue als die Großmutter des Kindes, das sie zu ihrem Rathgeber erwählt hatte! Ein namenloser Zug zuckte um ihre dünnen, blassen Lippen; aber mit großer Festigkeit im

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[0046] Weiß ich denn nicht, Gott, Lebendiger im Himmel! begann sie wieder wehklagend, daß ich eine Sünde begeh', und hab' ich denn die ganze Nacht ein Aug' können zumachen, wie mir die Sünd' ist eingefallen? Was soll ich aber thun? Was soll ich anfangen? Hast du sie gestern gesehen, wie sie gekeucht hat unter dem schweren Sack, wie sie nicht hat aufstehen können? Ich bin ja doch die Mamm' und sollt' kein Mitleid mit ihr haben? Stillbewegt lauschte Fischele auf die eigenthümlich verworrene Rede der Großmutter, die vielleicht nur er verstand. Mein alter Kopf soll das unterscheiden können, fuhr sie fort, ob ich da eine Sünde begeh' oder nicht? Hab' ich Gemahra gelernt, daß ich das wissen soll? Nicht einmal fragen kann ich Einen, und dein eigener Vater, Fischele, möcht' Feuer und Flamm' werden, könnt' er nur das kleinste Wörtchen davon erfahren! Sag aber selbst, Fischele Leben, du bist ja auch ein Mensch, soll ich's thun oder soll ich's nicht thun? Was denn? fragte erstaunt der Knabe. Diese unschuldige Frage mußte der alten Frau ihr ganzes Bewußtsein zurückgegeben haben; sie mußte mit aller Klarheit, die der gereiften Seele eigen ist, ihre Lage überschauen, sich fühlen aufs Neue als die Großmutter des Kindes, das sie zu ihrem Rathgeber erwählt hatte! Ein namenloser Zug zuckte um ihre dünnen, blassen Lippen; aber mit großer Festigkeit im

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/46>, abgerufen am 23.11.2024.