Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem Ganzen zusammen, und statt der katholischen "Madlena" blieb die jüdische "Dinah" immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie "zu deutsch" wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn keine Maria gewesen wäre! --

Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter -- Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub' ich's erst recht, daß sie beim Gallech gewesen. Sie mußte

Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem Ganzen zusammen, und statt der katholischen „Madlena“ blieb die jüdische „Dinah“ immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie „zu deutsch“ wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn keine Maria gewesen wäre! —

Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter — Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub' ich's erst recht, daß sie beim Gallech gewesen. Sie mußte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="2">
        <p><pb facs="#f0034"/>
Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem                Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages                entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem                Ganzen zusammen, und statt der katholischen &#x201E;Madlena&#x201C; blieb die jüdische &#x201E;Dinah&#x201C;                immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie &#x201E;zu                deutsch&#x201C; wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn                keine Maria gewesen wäre! &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was                sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen                verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim                erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines                ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle                Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer                Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele                zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim                mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter                &#x2014; Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände                zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub' ich's erst recht, daß sie beim                Gallech gewesen. Sie mußte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0034] Herzen kam. Arme Mutter Marjim! Du wolltest dir Stück für Stück von dem Leben aus der Seele reißen, das einst unter deinem Herzen dem Lichte des Tages entgegengepocht hatte; aber die zerrissenen Theile fügten sich immer wieder zu einem Ganzen zusammen, und statt der katholischen „Madlena“ blieb die jüdische „Dinah“ immer auf deinen Lippen, in deinem Herzen! Sie kränkte sich darüber, daß sie „zu deutsch“ wie die gebenedeite und gnadenreiche Mutter des Heilands hieß, als wenn keine Maria gewesen wäre! — Die alte Marjim hatte sich im Laufe der Jahre an manches Andere gewöhnen müssen, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihr stritt die Mutter und die Jüdin einen verzweiflungsvollen Kampf, der sich stets zu Gunsten der Letzteren entschied. Marjim erging es, wie es allen jenen Müttern ergeht, die sich zu sehr unter die Gewalt eines ihrer Kinder beugen. Dinah war von ihr abgefallen, dafür hatte Josseph alle Herrschaft an sich gerissen. Seiner gewaltsamen Natur war es gelungen, jeden ihrer Gedanken, der sich der getauften Tochter zuwandte, in die innersten Räume ihrer Seele zurückzubannen; er hatte es dahin gebracht, daß sie sich vor ihm fürchtete. Marjim mußte es erleben, daß sie bei der Nachricht von der ersten Niederkunft ihrer Tochter — Schrecken empfand, sie mußte es erleben, daß Josseph entsetzt die Hände zusammenschlug und in die Worte ausbrach: Jetzt glaub' ich's erst recht, daß sie beim Gallech gewesen. Sie mußte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/34
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/34>, abgerufen am 23.11.2024.