Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.es zu wissen. Meinst du, daß eine Mutter dem zusehen kann? Es sind ja doch alle ihre Kinder, und sie hat sie doch alle geboren, gesäugt und aufgezogen. Eine Mutter soll neun Monate mit ihrem Kinde schwanger gehen und mit Schrecken auf die Geburt warten, weil sie nicht weiß, ob denn der Vater nicht sagen wird: schon wieder so eines, was ich nicht nach meinem Glauben aufziehen darf? Neun Monate soll also die Mutter nicht wissen, ob der Vater dem Kind ein Vater sein wird? Wie kann so eine Mutter das nur aushalten und stirbt nicht vor Angst und Sorge? Ich wär' schon hundert Mal gestorben. Josseph starrte der Schwester in das hochgeröthete Gesicht; es lag ein wundersames Licht innerster Begeisterung darauf. Und dann, fuhr sie fort, es ist auch nicht gut, wenn die Kinder wissen, daß zwischen Vater und Mutter nicht Alles gleich ist. Sie richten sich darnach, und der Streit geht im Hause gar nicht aus. Man macht sich und Andere dadurch unglücklich, die Mutter nimmt für dieses, der Vater für jenes Kind Partei, auf die Letzt wird einem das Leben sauer, und man bereut's, daß man sich genommen hat. Josseph! Mann und Weib werfen sich's dann vor und schlagen mit bitteren Worten um sich, wie mit spitzigen Messern, daß sie sich einmal genommen haben! Gott behüt' das Weib und den Mann vor so einem Leben! Besser es zu wissen. Meinst du, daß eine Mutter dem zusehen kann? Es sind ja doch alle ihre Kinder, und sie hat sie doch alle geboren, gesäugt und aufgezogen. Eine Mutter soll neun Monate mit ihrem Kinde schwanger gehen und mit Schrecken auf die Geburt warten, weil sie nicht weiß, ob denn der Vater nicht sagen wird: schon wieder so eines, was ich nicht nach meinem Glauben aufziehen darf? Neun Monate soll also die Mutter nicht wissen, ob der Vater dem Kind ein Vater sein wird? Wie kann so eine Mutter das nur aushalten und stirbt nicht vor Angst und Sorge? Ich wär' schon hundert Mal gestorben. Josseph starrte der Schwester in das hochgeröthete Gesicht; es lag ein wundersames Licht innerster Begeisterung darauf. Und dann, fuhr sie fort, es ist auch nicht gut, wenn die Kinder wissen, daß zwischen Vater und Mutter nicht Alles gleich ist. Sie richten sich darnach, und der Streit geht im Hause gar nicht aus. Man macht sich und Andere dadurch unglücklich, die Mutter nimmt für dieses, der Vater für jenes Kind Partei, auf die Letzt wird einem das Leben sauer, und man bereut's, daß man sich genommen hat. Josseph! Mann und Weib werfen sich's dann vor und schlagen mit bitteren Worten um sich, wie mit spitzigen Messern, daß sie sich einmal genommen haben! Gott behüt' das Weib und den Mann vor so einem Leben! Besser <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="14"> <p><pb facs="#f0206"/> es zu wissen. Meinst du, daß eine Mutter dem zusehen kann? Es sind ja doch alle ihre Kinder, und sie hat sie doch alle geboren, gesäugt und aufgezogen. Eine Mutter soll neun Monate mit ihrem Kinde schwanger gehen und mit Schrecken auf die Geburt warten, weil sie nicht weiß, ob denn der Vater nicht sagen wird: schon wieder so eines, was ich nicht nach meinem Glauben aufziehen darf? Neun Monate soll also die Mutter nicht wissen, ob der Vater dem Kind ein Vater sein wird? Wie kann so eine Mutter das nur aushalten und stirbt nicht vor Angst und Sorge? Ich wär' schon hundert Mal gestorben.</p><lb/> <p>Josseph starrte der Schwester in das hochgeröthete Gesicht; es lag ein wundersames Licht innerster Begeisterung darauf.</p><lb/> <p>Und dann, fuhr sie fort, es ist auch nicht gut, wenn die Kinder wissen, daß zwischen Vater und Mutter nicht Alles gleich ist. Sie richten sich darnach, und der Streit geht im Hause gar nicht aus. Man macht sich und Andere dadurch unglücklich, die Mutter nimmt für dieses, der Vater für jenes Kind Partei, auf die Letzt wird einem das Leben sauer, und man bereut's, daß man sich genommen hat. Josseph! Mann und Weib werfen sich's dann vor und schlagen mit bitteren Worten um sich, wie mit spitzigen Messern, daß sie sich einmal genommen haben! Gott behüt' das Weib und den Mann vor so einem Leben! Besser<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0206]
es zu wissen. Meinst du, daß eine Mutter dem zusehen kann? Es sind ja doch alle ihre Kinder, und sie hat sie doch alle geboren, gesäugt und aufgezogen. Eine Mutter soll neun Monate mit ihrem Kinde schwanger gehen und mit Schrecken auf die Geburt warten, weil sie nicht weiß, ob denn der Vater nicht sagen wird: schon wieder so eines, was ich nicht nach meinem Glauben aufziehen darf? Neun Monate soll also die Mutter nicht wissen, ob der Vater dem Kind ein Vater sein wird? Wie kann so eine Mutter das nur aushalten und stirbt nicht vor Angst und Sorge? Ich wär' schon hundert Mal gestorben.
Josseph starrte der Schwester in das hochgeröthete Gesicht; es lag ein wundersames Licht innerster Begeisterung darauf.
Und dann, fuhr sie fort, es ist auch nicht gut, wenn die Kinder wissen, daß zwischen Vater und Mutter nicht Alles gleich ist. Sie richten sich darnach, und der Streit geht im Hause gar nicht aus. Man macht sich und Andere dadurch unglücklich, die Mutter nimmt für dieses, der Vater für jenes Kind Partei, auf die Letzt wird einem das Leben sauer, und man bereut's, daß man sich genommen hat. Josseph! Mann und Weib werfen sich's dann vor und schlagen mit bitteren Worten um sich, wie mit spitzigen Messern, daß sie sich einmal genommen haben! Gott behüt' das Weib und den Mann vor so einem Leben! Besser
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/206>, abgerufen am 16.07.2024. |