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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sammen, als sie im Augenblicke, wo sie ein siebenzigjähriges Geheimniß wie einen Blütenkern in die Seele ihres Enkels legte, daß er da aufschieße und vielleicht auch Früchte trage, als sie in diesem Augenblicke durch das Kommen ihres Sohnes, des Knaben Vater, gestört ward.

Es war ein stämmiger, hoher Mann, der langsam mit auf dem Rücken gekreuzten Händen des Weges daher kam. Er ward zuerst den Knaben ansichtig, der bei seinem Anblick ausrief: Guck, Babe, der Vater kommt! daß die alte Frau wie durch ein wunderbares Machtgebot sich erhob, um gleichfalls nach ihm zu sehen.

Um diesen Augenblick begann die Abendglocke zu läuten. Von der anderen Seite des Weges kamen Männer und Frauen des Dorfes, sie alle blieben bei den heiligen Klängen, die die stille Abendlust durchzitterten, eilig stehen und machten über sich das Zeichen des am Holze zu Tode geschlagenen Säemannes der Menschheit! Den Zug beschloß eine junge Bäuerin, die schwerer belastet schien, als die anderen Weiber. Sie trug eine Haue in der Hand, in der anderen einen vollen Sack; sie mußte beides von sich legen, ehe sie die Hände frei bekam; dann machte auch sie das Kreuz. Es war eine Gruppe stiller Beter, das Dorf in diesem Augenblicke eine große Kirche, der blaue Himmel als mächtige Kuppeldecke darüber gespannt.

Siehst du sie dort, Babe? flüsterte der Knabe fast

sammen, als sie im Augenblicke, wo sie ein siebenzigjähriges Geheimniß wie einen Blütenkern in die Seele ihres Enkels legte, daß er da aufschieße und vielleicht auch Früchte trage, als sie in diesem Augenblicke durch das Kommen ihres Sohnes, des Knaben Vater, gestört ward.

Es war ein stämmiger, hoher Mann, der langsam mit auf dem Rücken gekreuzten Händen des Weges daher kam. Er ward zuerst den Knaben ansichtig, der bei seinem Anblick ausrief: Guck, Babe, der Vater kommt! daß die alte Frau wie durch ein wunderbares Machtgebot sich erhob, um gleichfalls nach ihm zu sehen.

Um diesen Augenblick begann die Abendglocke zu läuten. Von der anderen Seite des Weges kamen Männer und Frauen des Dorfes, sie alle blieben bei den heiligen Klängen, die die stille Abendlust durchzitterten, eilig stehen und machten über sich das Zeichen des am Holze zu Tode geschlagenen Säemannes der Menschheit! Den Zug beschloß eine junge Bäuerin, die schwerer belastet schien, als die anderen Weiber. Sie trug eine Haue in der Hand, in der anderen einen vollen Sack; sie mußte beides von sich legen, ehe sie die Hände frei bekam; dann machte auch sie das Kreuz. Es war eine Gruppe stiller Beter, das Dorf in diesem Augenblicke eine große Kirche, der blaue Himmel als mächtige Kuppeldecke darüber gespannt.

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[0019] sammen, als sie im Augenblicke, wo sie ein siebenzigjähriges Geheimniß wie einen Blütenkern in die Seele ihres Enkels legte, daß er da aufschieße und vielleicht auch Früchte trage, als sie in diesem Augenblicke durch das Kommen ihres Sohnes, des Knaben Vater, gestört ward. Es war ein stämmiger, hoher Mann, der langsam mit auf dem Rücken gekreuzten Händen des Weges daher kam. Er ward zuerst den Knaben ansichtig, der bei seinem Anblick ausrief: Guck, Babe, der Vater kommt! daß die alte Frau wie durch ein wunderbares Machtgebot sich erhob, um gleichfalls nach ihm zu sehen. Um diesen Augenblick begann die Abendglocke zu läuten. Von der anderen Seite des Weges kamen Männer und Frauen des Dorfes, sie alle blieben bei den heiligen Klängen, die die stille Abendlust durchzitterten, eilig stehen und machten über sich das Zeichen des am Holze zu Tode geschlagenen Säemannes der Menschheit! Den Zug beschloß eine junge Bäuerin, die schwerer belastet schien, als die anderen Weiber. Sie trug eine Haue in der Hand, in der anderen einen vollen Sack; sie mußte beides von sich legen, ehe sie die Hände frei bekam; dann machte auch sie das Kreuz. Es war eine Gruppe stiller Beter, das Dorf in diesem Augenblicke eine große Kirche, der blaue Himmel als mächtige Kuppeldecke darüber gespannt. Siehst du sie dort, Babe? flüsterte der Knabe fast

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/19>, abgerufen am 03.05.2024.