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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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unter meine Füße herlegen, und ich bin nicht im Stand, mich drum zu bucken.

Auch ohne die zehntausend Gulden hätte sich der Knabe um den Strauß gebückt; er legte ihn der alten Frau in den Schooß.

Sie betrachtete ihn mit stillem Entzücken und nickte mit seligem Lächeln auf die blauen Blumen herab. Nach einer Weile sagte sie fast grollend mit sich selber:

Geh! geh! man vergißt auf sich selber, wenn man alt wird und schwach. Hätt' ich da nicht bald an den Blumen geschmeckt, und weiß doch ganz gut, daß des Bauers Sohn sie am heiligen Schabbes ausgerissen hat auf dem Feld? Werd' Einer nur alt und schwach! Mit offenen Augen und offenen Ohren begeht er Sünden auf Sünden, man weiß schier nicht, wie man dazu kommt. Gott aber, der Allmächtige da oben im siebenten Himmel, der hat alleweil sein groß Rechenbuch vor sich liegen und schreibt ein, und wenn Einen der Mallech hamowes (Todesengel) abholt, hat man eine Rechnung vor sich da, wie ein Trunkenbold, der nicht weiß, wie viel man ihm hat geliehen.

Während dieses in halb flüsterndem, halb grollendem Tone mit sich geführten Gespräches war ihr der Kranz wieder vom Schooß entglitten. Der Knabe hob ihn auf, aber, anstatt ihn zurückzustellen, führte er die schöne Gottesgabe an seine Nase und zog den frischen Feldduft der Blumen herzhaft ein.

unter meine Füße herlegen, und ich bin nicht im Stand, mich drum zu bucken.

Auch ohne die zehntausend Gulden hätte sich der Knabe um den Strauß gebückt; er legte ihn der alten Frau in den Schooß.

Sie betrachtete ihn mit stillem Entzücken und nickte mit seligem Lächeln auf die blauen Blumen herab. Nach einer Weile sagte sie fast grollend mit sich selber:

Geh! geh! man vergißt auf sich selber, wenn man alt wird und schwach. Hätt' ich da nicht bald an den Blumen geschmeckt, und weiß doch ganz gut, daß des Bauers Sohn sie am heiligen Schabbes ausgerissen hat auf dem Feld? Werd' Einer nur alt und schwach! Mit offenen Augen und offenen Ohren begeht er Sünden auf Sünden, man weiß schier nicht, wie man dazu kommt. Gott aber, der Allmächtige da oben im siebenten Himmel, der hat alleweil sein groß Rechenbuch vor sich liegen und schreibt ein, und wenn Einen der Mallech hamowes (Todesengel) abholt, hat man eine Rechnung vor sich da, wie ein Trunkenbold, der nicht weiß, wie viel man ihm hat geliehen.

Während dieses in halb flüsterndem, halb grollendem Tone mit sich geführten Gespräches war ihr der Kranz wieder vom Schooß entglitten. Der Knabe hob ihn auf, aber, anstatt ihn zurückzustellen, führte er die schöne Gottesgabe an seine Nase und zog den frischen Feldduft der Blumen herzhaft ein.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/13>, abgerufen am 03.05.2024.