Zweite Periode. C. F. Wolff.Caspar Friedrich Wolff, ein Deutscher, der später als Aka- demiker in Petersburg lebte, hat schon durch seine Dissertation: Theoria generationis Halae 1759 (zum zweiten Male deutsch her- ausgegeben Berlin 1764) die Augen seiner Zeitgenossen auf sich gezogen, und dann später durch eine zweite Abhandlung de forma- tione intestinorum in Novi Comment. Acad. Sc. J. Petrop. XII. 1768 und XIII. 1769, deutsch von Meckel, Halle 1812, seinen Ruf für immer begründet. Versuchen wir, das besonders Hervorragende in den Leistungen Wolff's genauer zu bezeichnen, so möchte Folgen- des vor Allem zu betonen sein. Wolff ist einmal Vorkämpfer der Theorie der Epigenese und ihm vor Allem hat man es zu danken, dass die von so gewaltigen Gegnern wie Haller und Bonnet ver- theidigte Evolutionslehre endlich unterlag. Von welchem Einflusse diess auf die Entwicklungsgeschichte sein musste, werden Sie leicht einsehen, wenn Sie bedenken wollen, dass nur bei der Annahme einer allmäligen Entstehung des Embryo aus einer einfachen Anlage das Streben nach einer genauen Verfolgung des ersten Werdens des- selben sich kund geben kann, während die Theorie der Evolution oder der Entwicklung durch einfache Enthüllung schon gebildeter Theile jeder weiteren embryologischen Untersuchung von Hause aus den Weg versperrt. Es hat nun aber Wolff nicht blos theoretisch der Entwicklungsgeschichte die Bahn bezeichnet, auf der sie vorzu- schreiten hat, sondern dieselbe forschend auch selbst betreten und in seinen Untersuchungen über die Entwicklung des Hühnchens alles bisher Geleistete weit übertroffen. Neben vielen wichtigen Entdeckungen mit Bezug auf die erste Anlage der Organe, wie z. B. derjenigen der nach ihm genannten Urnieren, nenne ich Ihnen vor Allem seine Studien über die Bildung des Darmkanals, von dem er nachweist, wie er aus der Form eines flach ausgebreiteten Blattes zu einer Halbrinne wird, dann vorn und hinten sich schliesst und endlich zu einem vollständigen, vom Dottersacke abgeschnürten Ka- nale sich gestaltet, an dem dann noch in letzter Linie die äussern Ausmündungen sich bilden. Durch diese Untersuchung Wolff's wurde zum ersten Male ein Organ von seinem ersten Anfange an bis zu seiner Vollendung verfolgt, und, was noch wichtiger ist, die Bildung eines so zusam- mengesetzten Apparates, wie der Darm, auf eine ein- fache blattartige primitive Anlage zurückgeführt.
Fast noch einflussreicher als durch diese Untersuchungen wurde
Erste Vorlesung.
Zweite Periode. C. F. Wolff.Caspar Friedrich Wolff, ein Deutscher, der später als Aka- demiker in Petersburg lebte, hat schon durch seine Dissertation: Theoria generationis Halae 1759 (zum zweiten Male deutsch her- ausgegeben Berlin 1764) die Augen seiner Zeitgenossen auf sich gezogen, und dann später durch eine zweite Abhandlung de forma- tione intestinorum in Novi Comment. Acad. Sc. J. Petrop. XII. 1768 und XIII. 1769, deutsch von Meckel, Halle 1812, seinen Ruf für immer begründet. Versuchen wir, das besonders Hervorragende in den Leistungen Wolff’s genauer zu bezeichnen, so möchte Folgen- des vor Allem zu betonen sein. Wolff ist einmal Vorkämpfer der Theorie der Epigenese und ihm vor Allem hat man es zu danken, dass die von so gewaltigen Gegnern wie Haller und Bonnet ver- theidigte Evolutionslehre endlich unterlag. Von welchem Einflusse diess auf die Entwicklungsgeschichte sein musste, werden Sie leicht einsehen, wenn Sie bedenken wollen, dass nur bei der Annahme einer allmäligen Entstehung des Embryo aus einer einfachen Anlage das Streben nach einer genauen Verfolgung des ersten Werdens des- selben sich kund geben kann, während die Theorie der Evolution oder der Entwicklung durch einfache Enthüllung schon gebildeter Theile jeder weiteren embryologischen Untersuchung von Hause aus den Weg versperrt. Es hat nun aber Wolff nicht blos theoretisch der Entwicklungsgeschichte die Bahn bezeichnet, auf der sie vorzu- schreiten hat, sondern dieselbe forschend auch selbst betreten und in seinen Untersuchungen über die Entwicklung des Hühnchens alles bisher Geleistete weit übertroffen. Neben vielen wichtigen Entdeckungen mit Bezug auf die erste Anlage der Organe, wie z. B. derjenigen der nach ihm genannten Urnieren, nenne ich Ihnen vor Allem seine Studien über die Bildung des Darmkanals, von dem er nachweist, wie er aus der Form eines flach ausgebreiteten Blattes zu einer Halbrinne wird, dann vorn und hinten sich schliesst und endlich zu einem vollständigen, vom Dottersacke abgeschnürten Ka- nale sich gestaltet, an dem dann noch in letzter Linie die äussern Ausmündungen sich bilden. Durch diese Untersuchung Wolff’s wurde zum ersten Male ein Organ von seinem ersten Anfange an bis zu seiner Vollendung verfolgt, und, was noch wichtiger ist, die Bildung eines so zusam- mengesetzten Apparates, wie der Darm, auf eine ein- fache blattartige primitive Anlage zurückgeführt.
Fast noch einflussreicher als durch diese Untersuchungen wurde
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0020"n="4"/><fwplace="top"type="header">Erste Vorlesung.</fw><lb/><p><noteplace="left">Zweite Periode.<lb/>
C. F. <hirendition="#k">Wolff.</hi></note><hirendition="#k">Caspar Friedrich Wolff</hi>, ein Deutscher, der später als Aka-<lb/>
demiker in Petersburg lebte, hat schon durch seine Dissertation:<lb/><hirendition="#i">Theoria generationis</hi> Halae 1759 (zum zweiten Male deutsch her-<lb/>
ausgegeben Berlin 1764) die Augen seiner Zeitgenossen auf sich<lb/>
gezogen, und dann später durch eine zweite Abhandlung <hirendition="#i">de forma-<lb/>
tione intestinorum</hi> in <hirendition="#i">Novi Comment. Acad. Sc. J. Petrop.</hi> XII. 1768<lb/>
und XIII. 1769, deutsch von <hirendition="#k">Meckel,</hi> Halle 1812, seinen Ruf für<lb/>
immer begründet. Versuchen wir, das besonders Hervorragende in<lb/>
den Leistungen <hirendition="#k">Wolff</hi>’s genauer zu bezeichnen, so möchte Folgen-<lb/>
des vor Allem zu betonen sein. <hirendition="#k">Wolff</hi> ist einmal Vorkämpfer der<lb/>
Theorie der Epigenese und ihm vor Allem hat man es zu danken,<lb/>
dass die von so gewaltigen Gegnern wie <hirendition="#k">Haller</hi> und <hirendition="#k">Bonnet</hi> ver-<lb/>
theidigte Evolutionslehre endlich unterlag. Von welchem Einflusse<lb/>
diess auf die Entwicklungsgeschichte sein musste, werden Sie leicht<lb/>
einsehen, wenn Sie bedenken wollen, dass nur bei der Annahme<lb/>
einer allmäligen Entstehung des Embryo aus einer einfachen Anlage<lb/>
das Streben nach einer genauen Verfolgung des ersten Werdens des-<lb/>
selben sich kund geben kann, während die Theorie der Evolution<lb/>
oder der Entwicklung durch einfache Enthüllung schon gebildeter<lb/>
Theile jeder weiteren embryologischen Untersuchung von Hause aus<lb/>
den Weg versperrt. Es hat nun aber <hirendition="#k">Wolff</hi> nicht blos theoretisch<lb/>
der Entwicklungsgeschichte die Bahn bezeichnet, auf der sie vorzu-<lb/>
schreiten hat, sondern dieselbe forschend auch selbst betreten und<lb/>
in seinen Untersuchungen über die Entwicklung des Hühnchens<lb/>
alles bisher Geleistete weit übertroffen. Neben vielen wichtigen<lb/>
Entdeckungen mit Bezug auf die erste Anlage der Organe, wie z. B.<lb/>
derjenigen der nach ihm genannten Urnieren, nenne ich Ihnen vor<lb/>
Allem seine Studien über die Bildung des Darmkanals, von dem er<lb/>
nachweist, wie er aus der Form eines flach ausgebreiteten Blattes<lb/>
zu einer Halbrinne wird, dann vorn und hinten sich schliesst und<lb/>
endlich zu einem vollständigen, vom Dottersacke abgeschnürten Ka-<lb/>
nale sich gestaltet, an dem dann noch in letzter Linie die äussern<lb/>
Ausmündungen sich bilden. <hirendition="#g">Durch diese Untersuchung<lb/><hirendition="#k">Wolff</hi>’s wurde zum ersten Male ein Organ von seinem<lb/>
ersten Anfange an bis zu seiner Vollendung verfolgt,</hi><lb/>
und, was noch wichtiger ist, <hirendition="#g">die Bildung eines so zusam-<lb/>
mengesetzten Apparates,</hi> wie der Darm, <hirendition="#g">auf eine ein-<lb/>
fache blattartige primitive Anlage zurückgeführt.</hi></p><lb/><p>Fast noch einflussreicher als durch diese Untersuchungen wurde<lb/></p></div></body></text></TEI>
[4/0020]
Erste Vorlesung.
Caspar Friedrich Wolff, ein Deutscher, der später als Aka-
demiker in Petersburg lebte, hat schon durch seine Dissertation:
Theoria generationis Halae 1759 (zum zweiten Male deutsch her-
ausgegeben Berlin 1764) die Augen seiner Zeitgenossen auf sich
gezogen, und dann später durch eine zweite Abhandlung de forma-
tione intestinorum in Novi Comment. Acad. Sc. J. Petrop. XII. 1768
und XIII. 1769, deutsch von Meckel, Halle 1812, seinen Ruf für
immer begründet. Versuchen wir, das besonders Hervorragende in
den Leistungen Wolff’s genauer zu bezeichnen, so möchte Folgen-
des vor Allem zu betonen sein. Wolff ist einmal Vorkämpfer der
Theorie der Epigenese und ihm vor Allem hat man es zu danken,
dass die von so gewaltigen Gegnern wie Haller und Bonnet ver-
theidigte Evolutionslehre endlich unterlag. Von welchem Einflusse
diess auf die Entwicklungsgeschichte sein musste, werden Sie leicht
einsehen, wenn Sie bedenken wollen, dass nur bei der Annahme
einer allmäligen Entstehung des Embryo aus einer einfachen Anlage
das Streben nach einer genauen Verfolgung des ersten Werdens des-
selben sich kund geben kann, während die Theorie der Evolution
oder der Entwicklung durch einfache Enthüllung schon gebildeter
Theile jeder weiteren embryologischen Untersuchung von Hause aus
den Weg versperrt. Es hat nun aber Wolff nicht blos theoretisch
der Entwicklungsgeschichte die Bahn bezeichnet, auf der sie vorzu-
schreiten hat, sondern dieselbe forschend auch selbst betreten und
in seinen Untersuchungen über die Entwicklung des Hühnchens
alles bisher Geleistete weit übertroffen. Neben vielen wichtigen
Entdeckungen mit Bezug auf die erste Anlage der Organe, wie z. B.
derjenigen der nach ihm genannten Urnieren, nenne ich Ihnen vor
Allem seine Studien über die Bildung des Darmkanals, von dem er
nachweist, wie er aus der Form eines flach ausgebreiteten Blattes
zu einer Halbrinne wird, dann vorn und hinten sich schliesst und
endlich zu einem vollständigen, vom Dottersacke abgeschnürten Ka-
nale sich gestaltet, an dem dann noch in letzter Linie die äussern
Ausmündungen sich bilden. Durch diese Untersuchung
Wolff’s wurde zum ersten Male ein Organ von seinem
ersten Anfange an bis zu seiner Vollendung verfolgt,
und, was noch wichtiger ist, die Bildung eines so zusam-
mengesetzten Apparates, wie der Darm, auf eine ein-
fache blattartige primitive Anlage zurückgeführt.
Zweite Periode.
C. F. Wolff.
Fast noch einflussreicher als durch diese Untersuchungen wurde
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kölliker, Albert von: Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Thiere. Leipzig, 1861, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koelliker_entwicklungs_1861/20>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.