Das unglükliche Mädchen vernahm die Flucht ihres treulosen Verführers -- wie vom Bliz ge- troffen sank sie zu Boden, rang mit einer gräs- lichen Ohnmacht, und würde untergelegen haben, wenn nicht die starke Natur sie unterstützt hätte. Sie erwachte zu noch grössern Leiden, zu Leiden, die in der Seele keimen, die gleich dem schwel- genden Wurm an der Knospe des Lebens nagen, bis sie fällt. Nicht allein die innere Ueberzeu- gung, du hast deine Unschuld verloren, sondern auch die innere zunehmende Gewisheit, bald wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver- lust deiner Ehre allenthalben kund machen -- dein Name wird gebrandmarket, am Pranger gestellt werden -- ehrbare Weiber werden mit Fingern auf dich zeigen -- deine Gespielinnen werden bitter und hohnlachend dir nachrufen, und der Fremdling wird zischeln und fragen: war das die tugendhafte Pamele? O wie musten diese Gedanken Dolchstösse für ein Mäd- chen sein, die so gebildet, mit solchen Geistes- gaben ausgerüstet, und nun durch einen einzigen Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre Mutter -- dies schändliche Weib! es sei nun, daß sie so etwas geahndet, oder daß sie ihr schwel-
Das ungluͤkliche Maͤdchen vernahm die Flucht ihres treuloſen Verfuͤhrers — wie vom Bliz ge- troffen ſank ſie zu Boden, rang mit einer graͤs- lichen Ohnmacht, und wuͤrde untergelegen haben, wenn nicht die ſtarke Natur ſie unterſtuͤtzt haͤtte. Sie erwachte zu noch groͤſſern Leiden, zu Leiden, die in der Seele keimen, die gleich dem ſchwel- genden Wurm an der Knoſpe des Lebens nagen, bis ſie faͤllt. Nicht allein die innere Ueberzeu- gung, du haſt deine Unſchuld verloren, ſondern auch die innere zunehmende Gewisheit, bald wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver- luſt deiner Ehre allenthalben kund machen — dein Name wird gebrandmarket, am Pranger geſtellt werden — ehrbare Weiber werden mit Fingern auf dich zeigen — deine Geſpielinnen werden bitter und hohnlachend dir nachrufen, und der Fremdling wird ziſcheln und fragen: war das die tugendhafte Pamele? O wie muſten dieſe Gedanken Dolchſtoͤſſe fuͤr ein Maͤd- chen ſein, die ſo gebildet, mit ſolchen Geiſtes- gaben ausgeruͤſtet, und nun durch einen einzigen Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre Mutter — dies ſchaͤndliche Weib! es ſei nun, daß ſie ſo etwas geahndet, oder daß ſie ihr ſchwel-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0071"n="63"/><p>Das ungluͤkliche Maͤdchen vernahm die Flucht<lb/>
ihres treuloſen Verfuͤhrers — wie vom Bliz ge-<lb/>
troffen ſank ſie zu Boden, rang mit einer graͤs-<lb/>
lichen Ohnmacht, und wuͤrde untergelegen haben,<lb/>
wenn nicht die ſtarke Natur ſie unterſtuͤtzt haͤtte.<lb/>
Sie erwachte zu noch groͤſſern Leiden, zu Leiden,<lb/>
die in der Seele keimen, die gleich dem ſchwel-<lb/>
genden Wurm an der Knoſpe des Lebens nagen,<lb/>
bis ſie faͤllt. Nicht allein die innere Ueberzeu-<lb/>
gung, du haſt deine Unſchuld verloren, ſondern<lb/>
auch die innere zunehmende Gewisheit, bald<lb/>
wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver-<lb/>
luſt deiner Ehre allenthalben kund machen —<lb/>
dein Name wird gebrandmarket, am Pranger<lb/>
geſtellt werden — ehrbare Weiber werden mit<lb/>
Fingern auf dich zeigen — deine Geſpielinnen<lb/>
werden bitter und hohnlachend dir nachrufen,<lb/>
und der Fremdling wird ziſcheln und fragen:<lb/><hirendition="#fr">war das die tugendhafte Pamele?</hi> O wie<lb/>
muſten dieſe Gedanken Dolchſtoͤſſe fuͤr ein Maͤd-<lb/>
chen ſein, die ſo gebildet, mit ſolchen Geiſtes-<lb/>
gaben ausgeruͤſtet, und nun durch einen einzigen<lb/>
Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre<lb/>
Mutter — dies ſchaͤndliche Weib! es ſei nun,<lb/>
daß ſie ſo etwas geahndet, oder daß ſie ihr ſchwel-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[63/0071]
Das ungluͤkliche Maͤdchen vernahm die Flucht
ihres treuloſen Verfuͤhrers — wie vom Bliz ge-
troffen ſank ſie zu Boden, rang mit einer graͤs-
lichen Ohnmacht, und wuͤrde untergelegen haben,
wenn nicht die ſtarke Natur ſie unterſtuͤtzt haͤtte.
Sie erwachte zu noch groͤſſern Leiden, zu Leiden,
die in der Seele keimen, die gleich dem ſchwel-
genden Wurm an der Knoſpe des Lebens nagen,
bis ſie faͤllt. Nicht allein die innere Ueberzeu-
gung, du haſt deine Unſchuld verloren, ſondern
auch die innere zunehmende Gewisheit, bald
wird ein lebender Zeuge auftreten, und den Ver-
luſt deiner Ehre allenthalben kund machen —
dein Name wird gebrandmarket, am Pranger
geſtellt werden — ehrbare Weiber werden mit
Fingern auf dich zeigen — deine Geſpielinnen
werden bitter und hohnlachend dir nachrufen,
und der Fremdling wird ziſcheln und fragen:
war das die tugendhafte Pamele? O wie
muſten dieſe Gedanken Dolchſtoͤſſe fuͤr ein Maͤd-
chen ſein, die ſo gebildet, mit ſolchen Geiſtes-
gaben ausgeruͤſtet, und nun durch einen einzigen
Fehltritt unwiderbringlich verloren war! Jhre
Mutter — dies ſchaͤndliche Weib! es ſei nun,
daß ſie ſo etwas geahndet, oder daß ſie ihr ſchwel-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/71>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.