alles anders, als es ehedem war -- ich bin kalt, fühllos gegen die Freuden um mich her, antworte der Mutter nicht, wenn sie ruft, und ihre Gaben ihren dürftigen Kindern mit verschwenderischer Hand ausspendet; ich gehe vorüber wie ein Tau- melnder, und achte nicht der einladenden Blumen, der duftenden Viole des rieselnden Bachs. O Mut- ter Natur! zürne nicht, wenn dein Sohn nicht in deine offne Arme sinkt, gib ihm seine Ruhe wie- der, und er ist wieder ganz dein Sohn; an deinem vollen Busen will ich dann ausruhen, und in süssen Träumen hinüber schlummern in die lachenden Auen, wo Semide die erste Rose bricht, und ihrem Se- lim liebevoll in die Arme sinkt. O Fantasie! daß du so wirksam und geschäftig sein must, ihr Bild immer vor meiner Seele zu führen, daß ich nichts denken kann, als sie, und darin Trost suche, daß meine Blikke ihr entgegen taumeln, und schüchtern zur Erde eilen, wenn sie meiner nicht achtet. -- Nicht achtet? Gedanke! wer schuf dich? weiß sie die reine Flamme, die in meinem Jnnern lodert, die mein ganzes Wesen durchglüht, und alle Säfte austroknet? vielleicht ahndet sie nicht, daß ein Jüngling sie nach schmachtet -- wähnts nicht, daß sie sein Herz geraubt hat -- soll sie es nie wissen? soll sich dis Herz, das so warm, so gefühlvoll in mir schlägt, abkümmern, und im langsamen Jam-
alles anders, als es ehedem war — ich bin kalt, fuͤhllos gegen die Freuden um mich her, antworte der Mutter nicht, wenn ſie ruft, und ihre Gaben ihren duͤrftigen Kindern mit verſchwenderiſcher Hand ausſpendet; ich gehe voruͤber wie ein Tau- melnder, und achte nicht der einladenden Blumen, der duftenden Viole des rieſelnden Bachs. O Mut- ter Natur! zuͤrne nicht, wenn dein Sohn nicht in deine offne Arme ſinkt, gib ihm ſeine Ruhe wie- der, und er iſt wieder ganz dein Sohn; an deinem vollen Buſen will ich dann ausruhen, und in ſuͤſſen Traͤumen hinuͤber ſchlummern in die lachenden Auen, wo Semide die erſte Roſe bricht, und ihrem Se- lim liebevoll in die Arme ſinkt. O Fantaſie! daß du ſo wirkſam und geſchaͤftig ſein muſt, ihr Bild immer vor meiner Seele zu fuͤhren, daß ich nichts denken kann, als ſie, und darin Troſt ſuche, daß meine Blikke ihr entgegen taumeln, und ſchuͤchtern zur Erde eilen, wenn ſie meiner nicht achtet. — Nicht achtet? Gedanke! wer ſchuf dich? weiß ſie die reine Flamme, die in meinem Jnnern lodert, die mein ganzes Weſen durchgluͤht, und alle Saͤfte austroknet? vielleicht ahndet ſie nicht, daß ein Juͤngling ſie nach ſchmachtet — waͤhnts nicht, daß ſie ſein Herz geraubt hat — ſoll ſie es nie wiſſen? ſoll ſich dis Herz, das ſo warm, ſo gefuͤhlvoll in mir ſchlaͤgt, abkuͤmmern, und im langſamen Jam-
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alles anders, als es ehedem war — ich bin kalt,
fuͤhllos gegen die Freuden um mich her, antworte
der Mutter nicht, wenn ſie ruft, und ihre Gaben
ihren duͤrftigen Kindern mit verſchwenderiſcher
Hand ausſpendet; ich gehe voruͤber wie ein Tau-
melnder, und achte nicht der einladenden Blumen,
der duftenden Viole des rieſelnden Bachs. O Mut-
ter Natur! zuͤrne nicht, wenn dein Sohn nicht in
deine offne Arme ſinkt, gib ihm ſeine Ruhe wie-
der, und er iſt wieder ganz dein Sohn; an deinem
vollen Buſen will ich dann ausruhen, und in ſuͤſſen
Traͤumen hinuͤber ſchlummern in die lachenden Auen,
wo Semide die erſte Roſe bricht, und ihrem Se-
lim liebevoll in die Arme ſinkt. O Fantaſie! daß
du ſo wirkſam und geſchaͤftig ſein muſt, ihr Bild
immer vor meiner Seele zu fuͤhren, daß ich nichts
denken kann, als ſie, und darin Troſt ſuche, daß
meine Blikke ihr entgegen taumeln, und ſchuͤchtern
zur Erde eilen, wenn ſie meiner nicht achtet. —
Nicht achtet? Gedanke! wer ſchuf dich? weiß ſie
die reine Flamme, die in meinem Jnnern lodert,
die mein ganzes Weſen durchgluͤht, und alle Saͤfte
austroknet? vielleicht ahndet ſie nicht, daß ein
Juͤngling ſie nach ſchmachtet — waͤhnts nicht, daß
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/252>, abgerufen am 22.11.2024.
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