[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Oden. Hamburg, 1771.Jener Ort, der dich hält, wo ist er? wo fliesset der Himmel, Welcher dein Aug umwölbt, heiter und lächelnd vorbey? Werd ich mein Auge zu dir einst, segnender Himmel, erheben, Und umarmet die sehn, die aufblühen du sahst? Aber ich kenne dich nicht! Es ging die fernere Sonne Meinen Thränen daselbst niemals nicht unter und auf. Soll ich jene Gefilde nicht sehn? Führt nie dort im Frühling Meine zitternde Hand sie durch ein blühendes Thal? Sinkt sie, von süsser Gewalt der mächtigen Liebe be- zwungen, Nie mit der Dämmerung Stern mir an die beben- de Brust? Ach, wie schlägt mir mein Herz! Wie zittern durch meine Gebeine Freud und Hofnung, dem Schmerz unüberwindlich dahin! Unbesingbare Lust, ein süsser begeisternder Schauer, Eine Thräne, die mir still von den Wangen entfiel; Und, o ich sehe sie! mitweinende, weibliche Zähren Ein mir lispelnder Hauch, und ein erschütterndes Ach; Ein zusegnender Laut, der mir rief, wie ein Schatten dem Schatten Liebend ruft, weissagt, dich, die mich hörete, mir. O. du, die du Sie mir und meiner Liebe gebahrest, Hältst du Sie, Mutter, umarmt; dreymal geseg- net sey mir! Dreymal gesegnet sey mir dein gleich empfindendes Herze, Das der Tochter zuerst weibliche Zärtlichkeit gab! Aber laß sie itzt frey! Sie eilt zu den Blumen, und will da Nicht von Zeugen behorcht, will gesehen nicht seyn. Eile
Jener Ort, der dich haͤlt, wo iſt er? wo flieſſet der Himmel, Welcher dein Aug umwoͤlbt, heiter und laͤchelnd vorbey? Werd ich mein Auge zu dir einſt, ſegnender Himmel, erheben, Und umarmet die ſehn, die aufbluͤhen du ſahſt? Aber ich kenne dich nicht! Es ging die fernere Sonne Meinen Thraͤnen daſelbſt niemals nicht unter und auf. Soll ich jene Gefilde nicht ſehn? Fuͤhrt nie dort im Fruͤhling Meine zitternde Hand ſie durch ein bluͤhendes Thal? Sinkt ſie, von ſuͤſſer Gewalt der maͤchtigen Liebe be- zwungen, Nie mit der Daͤmmerung Stern mir an die beben- de Bruſt? Ach, wie ſchlaͤgt mir mein Herz! Wie zittern durch meine Gebeine Freud und Hofnung, dem Schmerz unuͤberwindlich dahin! Unbeſingbare Luſt, ein ſuͤſſer begeiſternder Schauer, Eine Thraͤne, die mir ſtill von den Wangen entfiel; Und, o ich ſehe ſie! mitweinende, weibliche Zaͤhren Ein mir liſpelnder Hauch, und ein erſchuͤtterndes Ach; Ein zuſegnender Laut, der mir rief, wie ein Schatten dem Schatten Liebend ruft, weiſſagt, dich, die mich hoͤrete, mir. O. du, die du Sie mir und meiner Liebe gebahreſt, Haͤltſt du Sie, Mutter, umarmt; dreymal geſeg- net ſey mir! Dreymal geſegnet ſey mir dein gleich empfindendes Herze, Das der Tochter zuerſt weibliche Zaͤrtlichkeit gab! Aber laß ſie itzt frey! Sie eilt zu den Blumen, und will da Nicht von Zeugen behorcht, will geſehen nicht ſeyn. Eile
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0226" n="218"/> <l>Jener Ort, der dich haͤlt, wo iſt er? wo flieſſet der Himmel,</l><lb/> <l>Welcher dein Aug umwoͤlbt, heiter und laͤchelnd<lb/><hi rendition="#et">vorbey?</hi></l><lb/> <l>Werd ich mein Auge zu dir einſt, ſegnender Himmel,<lb/><hi rendition="#et">erheben,</hi></l><lb/> <l>Und umarmet die ſehn, die aufbluͤhen du ſahſt?</l><lb/> <l>Aber ich kenne dich nicht! Es ging die fernere Sonne</l><lb/> <l>Meinen Thraͤnen daſelbſt niemals nicht unter und<lb/><hi rendition="#et">auf.</hi></l><lb/> <l>Soll ich jene Gefilde nicht ſehn? Fuͤhrt nie dort im<lb/><hi rendition="#et">Fruͤhling</hi></l><lb/> <l>Meine zitternde Hand ſie durch ein bluͤhendes Thal?</l><lb/> <l>Sinkt ſie, von ſuͤſſer Gewalt der maͤchtigen Liebe be-<lb/><hi rendition="#et">zwungen,</hi></l><lb/> <l>Nie mit der Daͤmmerung Stern mir an die beben-<lb/><hi rendition="#et">de Bruſt?</hi></l><lb/> <l>Ach, wie ſchlaͤgt mir mein Herz! Wie zittern durch meine<lb/><hi rendition="#et">Gebeine</hi></l><lb/> <l>Freud und Hofnung, dem Schmerz unuͤberwindlich<lb/><hi rendition="#et">dahin!</hi></l><lb/> <l>Unbeſingbare Luſt, ein ſuͤſſer begeiſternder Schauer,</l><lb/> <l>Eine Thraͤne, die mir ſtill von den Wangen entfiel;</l><lb/> <l>Und, o ich ſehe ſie! mitweinende, weibliche Zaͤhren</l><lb/> <l>Ein mir liſpelnder Hauch, und ein erſchuͤtterndes Ach;</l><lb/> <l>Ein zuſegnender Laut, der mir rief, wie ein Schatten<lb/><hi rendition="#et">dem Schatten</hi></l><lb/> <l>Liebend ruft, weiſſagt, dich, die mich hoͤrete, mir.</l><lb/> <l>O. du, die du Sie mir und meiner Liebe gebahreſt,</l><lb/> <l>Haͤltſt du Sie, Mutter, umarmt; dreymal geſeg-<lb/><hi rendition="#et">net ſey mir!</hi></l><lb/> <l>Dreymal geſegnet ſey mir dein gleich empfindendes Herze,</l><lb/> <l>Das der Tochter zuerſt weibliche Zaͤrtlichkeit gab!</l><lb/> <l>Aber laß ſie itzt frey! Sie eilt zu den Blumen, und will da</l><lb/> <l>Nicht von Zeugen behorcht, will geſehen nicht ſeyn.</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Eile</fw><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [218/0226]
Jener Ort, der dich haͤlt, wo iſt er? wo flieſſet der Himmel,
Welcher dein Aug umwoͤlbt, heiter und laͤchelnd
vorbey?
Werd ich mein Auge zu dir einſt, ſegnender Himmel,
erheben,
Und umarmet die ſehn, die aufbluͤhen du ſahſt?
Aber ich kenne dich nicht! Es ging die fernere Sonne
Meinen Thraͤnen daſelbſt niemals nicht unter und
auf.
Soll ich jene Gefilde nicht ſehn? Fuͤhrt nie dort im
Fruͤhling
Meine zitternde Hand ſie durch ein bluͤhendes Thal?
Sinkt ſie, von ſuͤſſer Gewalt der maͤchtigen Liebe be-
zwungen,
Nie mit der Daͤmmerung Stern mir an die beben-
de Bruſt?
Ach, wie ſchlaͤgt mir mein Herz! Wie zittern durch meine
Gebeine
Freud und Hofnung, dem Schmerz unuͤberwindlich
dahin!
Unbeſingbare Luſt, ein ſuͤſſer begeiſternder Schauer,
Eine Thraͤne, die mir ſtill von den Wangen entfiel;
Und, o ich ſehe ſie! mitweinende, weibliche Zaͤhren
Ein mir liſpelnder Hauch, und ein erſchuͤtterndes Ach;
Ein zuſegnender Laut, der mir rief, wie ein Schatten
dem Schatten
Liebend ruft, weiſſagt, dich, die mich hoͤrete, mir.
O. du, die du Sie mir und meiner Liebe gebahreſt,
Haͤltſt du Sie, Mutter, umarmt; dreymal geſeg-
net ſey mir!
Dreymal geſegnet ſey mir dein gleich empfindendes Herze,
Das der Tochter zuerſt weibliche Zaͤrtlichkeit gab!
Aber laß ſie itzt frey! Sie eilt zu den Blumen, und will da
Nicht von Zeugen behorcht, will geſehen nicht ſeyn.
Eile
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |