Zu uns herauf, hier kanst du ihn, Seraph, näher be- trachten, Und von Antlitz zu Antlitz die zärtlichste Seele bemerken Jndem, als er noch sprach, da trat der stille Lebbäus Unter sie hin. Die hohe Versammlung wich ungemerkt seitwärts Vor dem Sterblichen aus. So zertheilen sich Frühlings- lüfte, Durch der Nachtigall kläglichen Ton, wenn sie mütterlich jammert. Jtzo umgaben sie ihn, und standen, wie Menschen, voll Liebe, Um ihn herum. Von keinem Geschöpf, wie er glaubte/ vernommen, Klagte der stille Lebbäus, und schlug im zärtlichen Kla- gen Ueber sein Haupt die Hände zusammen. So find ich ihn nirgends! Schon ist ein trauriger Tag und fast zwo Nächte verflos- sen, Daß wir ihn nicht sehen! Ja seine verruchten Verfolger Haben gewiß ihn endlich ergriffen! Jch armer Verlaßner Kann noch leben, da JEsus schon todt ist? Dich haben die Sünder Kläglich erwürgt, du göttlicher Mann! Und ich sah dich nicht sterben! Und ich habe nicht sanft dein göttliches Auge geschlos- sen! Sagt, Verruchte, wo würgtet ihr ihn? Jn welche Ge- filde, Ach! in welche verödete Wüste, zu welchen Gebeinen
Unter
Der Meſſias.
Zu uns herauf, hier kanſt du ihn, Seraph, naͤher be- trachten, Und von Antlitz zu Antlitz die zaͤrtlichſte Seele bemerken Jndem, als er noch ſprach, da trat der ſtille Lebbaͤus Unter ſie hin. Die hohe Verſammlung wich ungemerkt ſeitwaͤrts Vor dem Sterblichen aus. So zertheilen ſich Fruͤhlings- luͤfte, Durch der Nachtigall klaͤglichen Ton, wenn ſie muͤtterlich jammert. Jtzo umgaben ſie ihn, und ſtanden, wie Menſchen, voll Liebe, Um ihn herum. Von keinem Geſchoͤpf, wie er glaubte/ vernommen, Klagte der ſtille Lebbaͤus, und ſchlug im zaͤrtlichen Kla- gen Ueber ſein Haupt die Haͤnde zuſammen. So find ich ihn nirgends! Schon iſt ein trauriger Tag und faſt zwo Naͤchte verfloſ- ſen, Daß wir ihn nicht ſehen! Ja ſeine verruchten Verfolger Haben gewiß ihn endlich ergriffen! Jch armer Verlaßner Kann noch leben, da JEſus ſchon todt iſt? Dich haben die Suͤnder Klaͤglich erwuͤrgt, du goͤttlicher Mann! Und ich ſah dich nicht ſterben! Und ich habe nicht ſanft dein goͤttliches Auge geſchloſ- ſen! Sagt, Verruchte, wo wuͤrgtet ihr ihn? Jn welche Ge- filde, Ach! in welche veroͤdete Wuͤſte, zu welchen Gebeinen
Unter
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Der Meſſias.
Zu uns herauf, hier kanſt du ihn, Seraph, naͤher be-
trachten,
Und von Antlitz zu Antlitz die zaͤrtlichſte Seele bemerken
Jndem, als er noch ſprach, da trat der ſtille Lebbaͤus
Unter ſie hin. Die hohe Verſammlung wich ungemerkt
ſeitwaͤrts
Vor dem Sterblichen aus. So zertheilen ſich Fruͤhlings-
luͤfte,
Durch der Nachtigall klaͤglichen Ton, wenn ſie muͤtterlich
jammert.
Jtzo umgaben ſie ihn, und ſtanden, wie Menſchen, voll
Liebe,
Um ihn herum. Von keinem Geſchoͤpf, wie er glaubte/
vernommen,
Klagte der ſtille Lebbaͤus, und ſchlug im zaͤrtlichen Kla-
gen
Ueber ſein Haupt die Haͤnde zuſammen. So find ich ihn
nirgends!
Schon iſt ein trauriger Tag und faſt zwo Naͤchte verfloſ-
ſen,
Daß wir ihn nicht ſehen! Ja ſeine verruchten Verfolger
Haben gewiß ihn endlich ergriffen! Jch armer Verlaßner
Kann noch leben, da JEſus ſchon todt iſt? Dich haben
die Suͤnder
Klaͤglich erwuͤrgt, du goͤttlicher Mann! Und ich ſah dich
nicht ſterben!
Und ich habe nicht ſanft dein goͤttliches Auge geſchloſ-
ſen!
Sagt, Verruchte, wo wuͤrgtet ihr ihn? Jn welche Ge-
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Ach! in welche veroͤdete Wuͤſte, zu welchen Gebeinen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die ersten drei Gesänge von Klopstocks ‚Messias‘ … [mehr]
Die ersten drei Gesänge von Klopstocks ‚Messias‘ erschienen zunächst in den ‚Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes‘ (Bremen und Leipzig). Im Deutschen Textarchiv finden Sie mit dem 1749 in Halle erschienenen Druck die erste selbstständige Publikation des ersten bis dritten Gesangs. Ab 1751 erschienen diese und die weiteren Gesänge in vier Bänden, die Sie ebenfalls im DTA finden.
Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Ein Heldengedicht. Halle, 1749, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias_1749/118>, abgerufen am 22.07.2024.
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