Vor des Leibes Geburt, sich selbst noch unbekannt, schweben, Fand ich sie im Trüben nächst einer rinnenden Quelle, Die, wie von fern herweinende Stimmen, langrauschend ins Thal floß. Hier hat einmal, wie die Engel erzählen, der traurige Seraph Abbadonaa geweint, als er einst aus Eden zurück kam, Und das erste Paar Menschen der heiligen Unschuld be- raubt sah. Auch wißt ihr wohl, daß Seraphim oft hier die Seelen beklagen, Denen sie GOtt zu Vertrauten erkohr, die aber auf Er- den Erst die heilige Jugend mit Unschuld lieblich bekrönen, Dann den Anfang des göttlichen Lebens entheiligen wer- den. Ach, sie wird, vom Laster entstellt, ein schreckliches Ende Nehmen. Sie sinds, um die vor ihrer unselgen Geburts- zeit Brüderlich, mit Seufzern der himmlischen Freundschaft, mit Thränen, Menschen unweinbar, die Seraphim klagen. Hier fand ich die Seele Meines geliebten Lebbäus in ruhige Wolken gehüllet. Also vernahm sie den traurigen Ton mit schwacher Empfin- dung Die nun so lang, als das stärckre Gefühl der Sinne sie einnimmt, Ausgelöscht ist, doch wieder erweckt wird und mächtiger wirket,
Wenn
Der Meſſias.
Vor des Leibes Geburt, ſich ſelbſt noch unbekannt, ſchweben, Fand ich ſie im Truͤben naͤchſt einer rinnenden Quelle, Die, wie von fern herweinende Stimmen, langrauſchend ins Thal floß. Hier hat einmal, wie die Engel erzaͤhlen, der traurige Seraph Abbadonaa geweint, als er einſt aus Eden zuruͤck kam, Und das erſte Paar Menſchen der heiligen Unſchuld be- raubt ſah. Auch wißt ihr wohl, daß Seraphim oft hier die Seelen beklagen, Denen ſie GOtt zu Vertrauten erkohr, die aber auf Er- den Erſt die heilige Jugend mit Unſchuld lieblich bekroͤnen, Dann den Anfang des goͤttlichen Lebens entheiligen wer- den. Ach, ſie wird, vom Laſter entſtellt, ein ſchreckliches Ende Nehmen. Sie ſinds, um die vor ihrer unſelgen Geburts- zeit Bruͤderlich, mit Seufzern der himmliſchen Freundſchaft, mit Thraͤnen, Menſchen unweinbar, die Seraphim klagen. Hier fand ich die Seele Meines geliebten Lebbaͤus in ruhige Wolken gehuͤllet. Alſo vernahm ſie den traurigen Ton mit ſchwacher Empfin- dung Die nun ſo lang, als das ſtaͤrckre Gefuͤhl der Sinne ſie einnimmt, Ausgeloͤſcht iſt, doch wieder erweckt wird und maͤchtiger wirket,
Wenn
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Der Meſſias.
Vor des Leibes Geburt, ſich ſelbſt noch unbekannt,
ſchweben,
Fand ich ſie im Truͤben naͤchſt einer rinnenden Quelle,
Die, wie von fern herweinende Stimmen, langrauſchend ins
Thal floß.
Hier hat einmal, wie die Engel erzaͤhlen, der traurige
Seraph
Abbadonaa geweint, als er einſt aus Eden zuruͤck kam,
Und das erſte Paar Menſchen der heiligen Unſchuld be-
raubt ſah.
Auch wißt ihr wohl, daß Seraphim oft hier die Seelen
beklagen,
Denen ſie GOtt zu Vertrauten erkohr, die aber auf Er-
den
Erſt die heilige Jugend mit Unſchuld lieblich bekroͤnen,
Dann den Anfang des goͤttlichen Lebens entheiligen wer-
den.
Ach, ſie wird, vom Laſter entſtellt, ein ſchreckliches Ende
Nehmen. Sie ſinds, um die vor ihrer unſelgen Geburts-
zeit
Bruͤderlich, mit Seufzern der himmliſchen Freundſchaft,
mit Thraͤnen,
Menſchen unweinbar, die Seraphim klagen. Hier fand
ich die Seele
Meines geliebten Lebbaͤus in ruhige Wolken gehuͤllet.
Alſo vernahm ſie den traurigen Ton mit ſchwacher Empfin-
dung
Die nun ſo lang, als das ſtaͤrckre Gefuͤhl der Sinne ſie
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Ausgeloͤſcht iſt, doch wieder erweckt wird und maͤchtiger
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Die ersten drei Gesänge von Klopstocks ‚Messias‘ … [mehr]
Die ersten drei Gesänge von Klopstocks ‚Messias‘ erschienen zunächst in den ‚Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes‘ (Bremen und Leipzig). Im Deutschen Textarchiv finden Sie mit dem 1749 in Halle erschienenen Druck die erste selbstständige Publikation des ersten bis dritten Gesangs. Ab 1751 erschienen diese und die weiteren Gesänge in vier Bänden, die Sie ebenfalls im DTA finden.
Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Ein Heldengedicht. Halle, 1749, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias_1749/116>, abgerufen am 22.07.2024.
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