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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773.

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Siebzehnter Gesang.
Viele Fragende standen um Lazarus her, und Antwort
Hatt' er schon vielen gegeben. Jtzt sagt' er zu einem der Pilger,
Der ein Unsterblicher war, kein Pilger mehr auf der Erde:
Unsers Mittlers Erniedrigung?.. Jst für den schärfsten
der Blicke
Abgrund, wo am unmerklichsten sich die größten der Thaten
Zeigen. Dann dort, wo sie sind, sinket am tiefsten die Tiefe.
Lasset uns menschlich reden von göttlichen Dingen; denn anders
Können wir nicht. Ein Mensch, der edler ist, handelt; verkennet
Wird er, ist voller Gefühl, empfindet es, daß er verkannt wird,
Leidet! Was ist er? Ein schwacher, sterblicher Mensch, der ein wenig
Besser ist, als die andern; und dennoch weinet er, hält er
Bittere Thränen zurück, die gerecht ihm scheinen. Und Christus
Unser Mittler? Wir stehn an der Tiefe! Vergleichet; vergleichet
Aber auch nicht: sonst muß ich schweigen. Der Mittler ist Gottes
Sohn! ist Gott! Hier schwindet zu nichts das Bild vor dem Urbild.
Und er handelt. Auch hier wird es Schatten. Berkennet? Jn Allem
Ganz verkennet! Und jene Thränen, die Christus zurück hielt?
Wären gerechtere jemals geweinet worden?.. Doch alles,
Was der Mensch durch sich selbst sich erklärt, ist fern von dem Leiden,
Das der Heilige litt! ist fern vom Gefühle, mit welchem
Er es litt! Verkennt nur in Allem ganz? Voll stärkern
Tiefern Gefühls, als ein Mensch empfunden, empfunden ein Engel,
Wurd' er, mit Hohne der Hölle, gehöhnet! unter lautem
Schlangengezisch in Purpur gehüllt! ein Rohr ihm gegeben
Jn die Rechte zum Zepter! aus Dornen um seine Schläfe
Eine Krone gewunden! So wurd' er geführt zu der Schädel
Hügel,
E 5
Siebzehnter Geſang.
Viele Fragende ſtanden um Lazarus her, und Antwort
Hatt’ er ſchon vielen gegeben. Jtzt ſagt’ er zu einem der Pilger,
Der ein Unſterblicher war, kein Pilger mehr auf der Erde:
Unſers Mittlers Erniedrigung?.. Jſt fuͤr den ſchaͤrfſten
der Blicke
Abgrund, wo am unmerklichſten ſich die groͤßten der Thaten
Zeigen. Dann dort, wo ſie ſind, ſinket am tiefſten die Tiefe.
Laſſet uns menſchlich reden von goͤttlichen Dingen; denn anders
Koͤnnen wir nicht. Ein Menſch, der edler iſt, handelt; verkennet
Wird er, iſt voller Gefuͤhl, empfindet es, daß er verkannt wird,
Leidet! Was iſt er? Ein ſchwacher, ſterblicher Menſch, der ein wenig
Beſſer iſt, als die andern; und dennoch weinet er, haͤlt er
Bittere Thraͤnen zuruͤck, die gerecht ihm ſcheinen. Und Chriſtus
Unſer Mittler? Wir ſtehn an der Tiefe! Vergleichet; vergleichet
Aber auch nicht: ſonſt muß ich ſchweigen. Der Mittler iſt Gottes
Sohn! iſt Gott! Hier ſchwindet zu nichts das Bild vor dem Urbild.
Und er handelt. Auch hier wird es Schatten. Berkennet? Jn Allem
Ganz verkennet! Und jene Thraͤnen, die Chriſtus zuruͤck hielt?
Waͤren gerechtere jemals geweinet worden?.. Doch alles,
Was der Menſch durch ſich ſelbſt ſich erklaͤrt, iſt fern von dem Leiden,
Das der Heilige litt! iſt fern vom Gefuͤhle, mit welchem
Er es litt! Verkennt nur in Allem ganz? Voll ſtaͤrkern
Tiefern Gefuͤhls, als ein Menſch empfunden, empfunden ein Engel,
Wurd’ er, mit Hohne der Hoͤlle, gehoͤhnet! unter lautem
Schlangengeziſch in Purpur gehuͤllt! ein Rohr ihm gegeben
Jn die Rechte zum Zepter! aus Dornen um ſeine Schlaͤfe
Eine Krone gewunden! So wurd’ er gefuͤhrt zu der Schaͤdel
Huͤgel,
E 5
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[73/0073] Siebzehnter Geſang. Viele Fragende ſtanden um Lazarus her, und Antwort Hatt’ er ſchon vielen gegeben. Jtzt ſagt’ er zu einem der Pilger, Der ein Unſterblicher war, kein Pilger mehr auf der Erde: Unſers Mittlers Erniedrigung?.. Jſt fuͤr den ſchaͤrfſten der Blicke Abgrund, wo am unmerklichſten ſich die groͤßten der Thaten Zeigen. Dann dort, wo ſie ſind, ſinket am tiefſten die Tiefe. Laſſet uns menſchlich reden von goͤttlichen Dingen; denn anders Koͤnnen wir nicht. Ein Menſch, der edler iſt, handelt; verkennet Wird er, iſt voller Gefuͤhl, empfindet es, daß er verkannt wird, Leidet! Was iſt er? Ein ſchwacher, ſterblicher Menſch, der ein wenig Beſſer iſt, als die andern; und dennoch weinet er, haͤlt er Bittere Thraͤnen zuruͤck, die gerecht ihm ſcheinen. Und Chriſtus Unſer Mittler? Wir ſtehn an der Tiefe! Vergleichet; vergleichet Aber auch nicht: ſonſt muß ich ſchweigen. Der Mittler iſt Gottes Sohn! iſt Gott! Hier ſchwindet zu nichts das Bild vor dem Urbild. Und er handelt. Auch hier wird es Schatten. Berkennet? Jn Allem Ganz verkennet! Und jene Thraͤnen, die Chriſtus zuruͤck hielt? Waͤren gerechtere jemals geweinet worden?.. Doch alles, Was der Menſch durch ſich ſelbſt ſich erklaͤrt, iſt fern von dem Leiden, Das der Heilige litt! iſt fern vom Gefuͤhle, mit welchem Er es litt! Verkennt nur in Allem ganz? Voll ſtaͤrkern Tiefern Gefuͤhls, als ein Menſch empfunden, empfunden ein Engel, Wurd’ er, mit Hohne der Hoͤlle, gehoͤhnet! unter lautem Schlangengeziſch in Purpur gehuͤllt! ein Rohr ihm gegeben Jn die Rechte zum Zepter! aus Dornen um ſeine Schlaͤfe Eine Krone gewunden! So wurd’ er gefuͤhrt zu der Schaͤdel Huͤgel, E 5

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias04_1773/73>, abgerufen am 02.05.2024.