Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Vierzehnter Gesang.
Sich mit ermüdetem Arme noch, da der Finsterniß Stille
Eine Stimme durchscholl, die immer näher heraufkam.

Wessen ist diese Klage, die aus den Gräbern hervorschallt?
Hat dich ein Mörder verwundet? und kann ich dir helfen, o Fremdling?
Rede! wo bist du? Jch will dir deine Wunde verbinden.
Didymus redete nicht. Wo bist du? Jch hörte die Stimme
Deiner Angst, und bin, daß ich dir helfe, gekommen.
Fremdling, ich bin kein Mörder! Jch hörte fern in dem Thale,
Daß du jammertest! Sieh, ich bin dein Retter, wofern dich
Menschen zu retten vermögen! ... Jch freue mich, sagte Thomas,
Wer du auch seyst, daß du, o Wandrer, ein redliches Herz hast.
Sey gesegnet, und geh, wohin dich dein nächtlicher Weg ruft.
Zarte, blühende Kinder, und ihre liebende Mutter
Warten deiner vielleicht. Du kannst mir nicht helfen. Die Wunden
Ueber die du mich jammern gehört, sind Wunden der Seele!
Wunden der Seele, mein Bruder? antwortet die nähere Stimme,
Strecke die Hand nach mir aus, daß ich dich finde, Geliebter!
Dich umarme! Didymus thats. Sie umarmten einander.
Bist du ein Jsraelit, o Wanderer? einer der Männer,
Die zu dem Fest von den Jnseln herauf nach Jerusalem kommen?
Und wie heisset dein Namen? ... Jch bin der Söhne von Jakob
Einer. Jch komm aus fernen, sehr fernen Landen. Mein Nam' ist
Joseph; und deiner, mein Bruder? ... Mein Name, Joseph, ist Thomas.
Aber was weilen wir hier im Schauer der Nacht und der Gräber,
Thomas? O komm, laß uns aus dieser dunkleren Nacht gehn.
Diese Stille, die Dunkelheit wirft noch schwärzere Schatten
Auf die Bilder der Angst, die deine Seele bewölken.
Diese
M 2

Vierzehnter Geſang.
Sich mit ermuͤdetem Arme noch, da der Finſterniß Stille
Eine Stimme durchſcholl, die immer naͤher heraufkam.

Weſſen iſt dieſe Klage, die aus den Graͤbern hervorſchallt?
Hat dich ein Moͤrder verwundet? und kann ich dir helfen, o Fremdling?
Rede! wo biſt du? Jch will dir deine Wunde verbinden.
Didymus redete nicht. Wo biſt du? Jch hoͤrte die Stimme
Deiner Angſt, und bin, daß ich dir helfe, gekommen.
Fremdling, ich bin kein Moͤrder! Jch hoͤrte fern in dem Thale,
Daß du jammerteſt! Sieh, ich bin dein Retter, wofern dich
Menſchen zu retten vermoͤgen! … Jch freue mich, ſagte Thomas,
Wer du auch ſeyſt, daß du, o Wandrer, ein redliches Herz haſt.
Sey geſegnet, und geh, wohin dich dein naͤchtlicher Weg ruft.
Zarte, bluͤhende Kinder, und ihre liebende Mutter
Warten deiner vielleicht. Du kannſt mir nicht helfen. Die Wunden
Ueber die du mich jammern gehoͤrt, ſind Wunden der Seele!
Wunden der Seele, mein Bruder? antwortet die naͤhere Stimme,
Strecke die Hand nach mir aus, daß ich dich finde, Geliebter!
Dich umarme! Didymus thats. Sie umarmten einander.
Biſt du ein Jſraelit, o Wanderer? einer der Maͤnner,
Die zu dem Feſt von den Jnſeln herauf nach Jeruſalem kommen?
Und wie heiſſet dein Namen? … Jch bin der Soͤhne von Jakob
Einer. Jch komm aus fernen, ſehr fernen Landen. Mein Nam’ iſt
Joſeph; und deiner, mein Bruder? … Mein Name, Joſeph, iſt Thomas.
Aber was weilen wir hier im Schauer der Nacht und der Graͤber,
Thomas? O komm, laß uns aus dieſer dunkleren Nacht gehn.
Dieſe Stille, die Dunkelheit wirft noch ſchwaͤrzere Schatten
Auf die Bilder der Angſt, die deine Seele bewoͤlken.
Dieſe
M 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="95">
            <pb facs="#f0195" n="179"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vierzehnter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
            <l>Sich mit ermu&#x0364;detem Arme noch, da der Fin&#x017F;terniß Stille</l><lb/>
            <l>Eine Stimme durch&#x017F;choll, die immer na&#x0364;her heraufkam.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="96">
            <l>We&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t die&#x017F;e Klage, die aus den Gra&#x0364;bern hervor&#x017F;challt?</l><lb/>
            <l>Hat dich ein Mo&#x0364;rder verwundet? und kann ich dir helfen, o Fremdling?</l><lb/>
            <l>Rede! wo bi&#x017F;t du? Jch will dir deine Wunde verbinden.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="97">
            <l>Didymus redete nicht. Wo bi&#x017F;t du? Jch ho&#x0364;rte die Stimme</l><lb/>
            <l>Deiner Ang&#x017F;t, und bin, daß ich dir helfe, gekommen.</l><lb/>
            <l>Fremdling, ich bin kein Mo&#x0364;rder! Jch ho&#x0364;rte fern in dem Thale,</l><lb/>
            <l>Daß du jammerte&#x017F;t! Sieh, ich bin dein Retter, wofern dich</l><lb/>
            <l>Men&#x017F;chen zu retten vermo&#x0364;gen! &#x2026; Jch freue mich, &#x017F;agte Thomas,</l><lb/>
            <l>Wer du auch &#x017F;ey&#x017F;t, daß du, o Wandrer, ein redliches Herz ha&#x017F;t.</l><lb/>
            <l>Sey ge&#x017F;egnet, und geh, wohin dich dein na&#x0364;chtlicher Weg ruft.</l><lb/>
            <l>Zarte, blu&#x0364;hende Kinder, und ihre liebende Mutter</l><lb/>
            <l>Warten deiner vielleicht. Du kann&#x017F;t mir nicht helfen. Die Wunden</l><lb/>
            <l>Ueber die du mich jammern geho&#x0364;rt, &#x017F;ind Wunden der Seele!</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="98">
            <l>Wunden der Seele, mein Bruder? antwortet die na&#x0364;here Stimme,</l><lb/>
            <l>Strecke die Hand nach mir aus, daß ich dich finde, Geliebter!</l><lb/>
            <l>Dich umarme! Didymus thats. Sie umarmten einander.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="99">
            <l>Bi&#x017F;t du ein J&#x017F;raelit, o Wanderer? einer der Ma&#x0364;nner,</l><lb/>
            <l>Die zu dem Fe&#x017F;t von den Jn&#x017F;eln herauf nach Jeru&#x017F;alem kommen?</l><lb/>
            <l>Und wie hei&#x017F;&#x017F;et dein Namen? &#x2026; Jch bin der So&#x0364;hne von Jakob</l><lb/>
            <l>Einer. Jch komm aus fernen, &#x017F;ehr fernen Landen. Mein Nam&#x2019; i&#x017F;t</l><lb/>
            <l>Jo&#x017F;eph; und deiner, mein Bruder? &#x2026; Mein Name, Jo&#x017F;eph, i&#x017F;t Thomas.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="100">
            <l>Aber was weilen wir hier im Schauer der Nacht und der Gra&#x0364;ber,</l><lb/>
            <l>Thomas? O komm, laß uns aus die&#x017F;er dunkleren Nacht gehn.</l><lb/>
            <l>Die&#x017F;e Stille, die Dunkelheit wirft noch &#x017F;chwa&#x0364;rzere Schatten</l><lb/>
            <l>Auf die Bilder der Ang&#x017F;t, die deine Seele bewo&#x0364;lken.</l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">M 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Die&#x017F;e</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0195] Vierzehnter Geſang. Sich mit ermuͤdetem Arme noch, da der Finſterniß Stille Eine Stimme durchſcholl, die immer naͤher heraufkam. Weſſen iſt dieſe Klage, die aus den Graͤbern hervorſchallt? Hat dich ein Moͤrder verwundet? und kann ich dir helfen, o Fremdling? Rede! wo biſt du? Jch will dir deine Wunde verbinden. Didymus redete nicht. Wo biſt du? Jch hoͤrte die Stimme Deiner Angſt, und bin, daß ich dir helfe, gekommen. Fremdling, ich bin kein Moͤrder! Jch hoͤrte fern in dem Thale, Daß du jammerteſt! Sieh, ich bin dein Retter, wofern dich Menſchen zu retten vermoͤgen! … Jch freue mich, ſagte Thomas, Wer du auch ſeyſt, daß du, o Wandrer, ein redliches Herz haſt. Sey geſegnet, und geh, wohin dich dein naͤchtlicher Weg ruft. Zarte, bluͤhende Kinder, und ihre liebende Mutter Warten deiner vielleicht. Du kannſt mir nicht helfen. Die Wunden Ueber die du mich jammern gehoͤrt, ſind Wunden der Seele! Wunden der Seele, mein Bruder? antwortet die naͤhere Stimme, Strecke die Hand nach mir aus, daß ich dich finde, Geliebter! Dich umarme! Didymus thats. Sie umarmten einander. Biſt du ein Jſraelit, o Wanderer? einer der Maͤnner, Die zu dem Feſt von den Jnſeln herauf nach Jeruſalem kommen? Und wie heiſſet dein Namen? … Jch bin der Soͤhne von Jakob Einer. Jch komm aus fernen, ſehr fernen Landen. Mein Nam’ iſt Joſeph; und deiner, mein Bruder? … Mein Name, Joſeph, iſt Thomas. Aber was weilen wir hier im Schauer der Nacht und der Graͤber, Thomas? O komm, laß uns aus dieſer dunkleren Nacht gehn. Dieſe Stille, die Dunkelheit wirft noch ſchwaͤrzere Schatten Auf die Bilder der Angſt, die deine Seele bewoͤlken. Dieſe M 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769/195
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769/195>, abgerufen am 19.04.2024.