Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Meßias.

Ehmals der Nil, in vierzehn Gestade zusammen gedränget,
Und ihr, der Könige Grab, unsterbliche Pyramiden.
Niemals hat noch ein Auge, von kleinern Himmeln umgränzet,
Diese verlaßnen Gefilde gesehen, wo nächtliches Erdreich
Unbewohnt ruht, wo kein Laut von Menschenstimmen ertönet,
Wo kein Todter begraben liegt, wo kein Auferstehn seyn wird.
Aber zu tiefen Gedanken, und zur Betrachtung gewidmet,
Machen sie Seraphim herrlich, wenn sie auf ihren Gebirgen,
Orionen gleich, gehn, und in prophetische Stille
Sanft verloren, der Menschen zukünftige Seligkeit anschaun.
Mitten in diesen Gefilden erhebt sich die englische Pforte,
Durch die der Erde Beschützer zu ihrem Heiligthum eingehn.

Wie zur Zeit des belebenden Winters ein heiliger Festtag
Ueber beschneyten Gebirgen nach trüben Tagen hervorgeht;
Wolken und Nacht entfliehen vor ihm, die beeisten Gefilde
Hohe durchsichtige Wälder entnebeln ihr Antlitz, und glänzen:
Also gieng Gabriel itzt auf den mitternächtlichen Bergen,
Und schon stand sein unsterblicher Fuß an der heiligen Pforte,
Die sich vor ihm wie Flügel der rauschenden Cherubim, aufthat.
Schon war sie hinter ihm wieder geschlossen. Nun gieng der Seraph
Jn den Tiefen der Erde. Da wälzten sich Oceane
Um ihn mit langsamer Flut zum menschenlosen Gestade.
Alle Söhne der Oceane, gewaltige Flüsse,
Flossen, wie Ungewitter sich aus den Wüsten heraufziehn,
Fern und rauhtönend ihm nach. Er gieng, und sein heiliger Wohnplatz
Zeigte sich schon in der Nähe. Die Pforte von Wolken erbauet
Wich

Der Meßias.

Ehmals der Nil, in vierzehn Geſtade zuſammen gedraͤnget,
Und ihr, der Koͤnige Grab, unſterbliche Pyramiden.
Niemals hat noch ein Auge, von kleinern Himmeln umgraͤnzet,
Dieſe verlaßnen Gefilde geſehen, wo naͤchtliches Erdreich
Unbewohnt ruht, wo kein Laut von Menſchenſtimmen ertoͤnet,
Wo kein Todter begraben liegt, wo kein Auferſtehn ſeyn wird.
Aber zu tiefen Gedanken, und zur Betrachtung gewidmet,
Machen ſie Seraphim herrlich, wenn ſie auf ihren Gebirgen,
Orionen gleich, gehn, und in prophetiſche Stille
Sanft verloren, der Menſchen zukuͤnftige Seligkeit anſchaun.
Mitten in dieſen Gefilden erhebt ſich die engliſche Pforte,
Durch die der Erde Beſchuͤtzer zu ihrem Heiligthum eingehn.

Wie zur Zeit des belebenden Winters ein heiliger Feſttag
Ueber beſchneyten Gebirgen nach truͤben Tagen hervorgeht;
Wolken und Nacht entfliehen vor ihm, die beeiſten Gefilde
Hohe durchſichtige Waͤlder entnebeln ihr Antlitz, und glaͤnzen:
Alſo gieng Gabriel itzt auf den mitternaͤchtlichen Bergen,
Und ſchon ſtand ſein unſterblicher Fuß an der heiligen Pforte,
Die ſich vor ihm wie Fluͤgel der rauſchenden Cherubim, aufthat.
Schon war ſie hinter ihm wieder geſchloſſen. Nun gieng der Seraph
Jn den Tiefen der Erde. Da waͤlzten ſich Oceane
Um ihn mit langſamer Flut zum menſchenloſen Geſtade.
Alle Soͤhne der Oceane, gewaltige Fluͤſſe,
Floſſen, wie Ungewitter ſich aus den Wuͤſten heraufziehn,
Fern und rauhtoͤnend ihm nach. Er gieng, und ſein heiliger Wohnplatz
Zeigte ſich ſchon in der Naͤhe. Die Pforte von Wolken erbauet
Wich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="37">
              <l>
                <pb facs="#f0038" n="26"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Der Meßias.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Ehmals der Nil, in vierzehn Ge&#x017F;tade zu&#x017F;ammen gedra&#x0364;nget,</l><lb/>
              <l>Und ihr, der Ko&#x0364;nige Grab, un&#x017F;terbliche Pyramiden.</l><lb/>
              <l>Niemals hat noch ein Auge, von kleinern Himmeln umgra&#x0364;nzet,</l><lb/>
              <l>Die&#x017F;e verlaßnen Gefilde ge&#x017F;ehen, wo na&#x0364;chtliches Erdreich</l><lb/>
              <l>Unbewohnt ruht, wo kein Laut von Men&#x017F;chen&#x017F;timmen erto&#x0364;net,</l><lb/>
              <l>Wo kein Todter begraben liegt, wo kein Aufer&#x017F;tehn &#x017F;eyn wird.</l><lb/>
              <l>Aber zu tiefen Gedanken, und zur Betrachtung gewidmet,</l><lb/>
              <l>Machen &#x017F;ie Seraphim herrlich, wenn &#x017F;ie auf ihren Gebirgen,</l><lb/>
              <l>Orionen gleich, gehn, und in propheti&#x017F;che Stille</l><lb/>
              <l>Sanft verloren, der Men&#x017F;chen zuku&#x0364;nftige Seligkeit an&#x017F;chaun.</l><lb/>
              <l>Mitten in die&#x017F;en Gefilden erhebt &#x017F;ich die engli&#x017F;che Pforte,</l><lb/>
              <l>Durch die der Erde Be&#x017F;chu&#x0364;tzer zu ihrem Heiligthum eingehn.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="38">
              <l>Wie zur Zeit des belebenden Winters ein heiliger Fe&#x017F;ttag</l><lb/>
              <l>Ueber be&#x017F;chneyten Gebirgen nach tru&#x0364;ben Tagen hervorgeht;</l><lb/>
              <l>Wolken und Nacht entfliehen vor ihm, die beei&#x017F;ten Gefilde</l><lb/>
              <l>Hohe durch&#x017F;ichtige Wa&#x0364;lder entnebeln ihr Antlitz, und gla&#x0364;nzen:</l><lb/>
              <l>Al&#x017F;o gieng Gabriel itzt auf den mitterna&#x0364;chtlichen Bergen,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;chon &#x017F;tand &#x017F;ein un&#x017F;terblicher Fuß an der heiligen Pforte,</l><lb/>
              <l>Die &#x017F;ich vor ihm wie Flu&#x0364;gel der rau&#x017F;chenden Cherubim, aufthat.</l><lb/>
              <l>Schon war &#x017F;ie hinter ihm wieder ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Nun gieng der Seraph</l><lb/>
              <l>Jn den Tiefen der Erde. Da wa&#x0364;lzten &#x017F;ich Oceane</l><lb/>
              <l>Um ihn mit lang&#x017F;amer Flut zum men&#x017F;chenlo&#x017F;en Ge&#x017F;tade.</l><lb/>
              <l>Alle So&#x0364;hne der Oceane, gewaltige Flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>Flo&#x017F;&#x017F;en, wie Ungewitter &#x017F;ich aus den Wu&#x0364;&#x017F;ten heraufziehn,</l><lb/>
              <l>Fern und rauhto&#x0364;nend ihm nach. Er gieng, und &#x017F;ein heiliger Wohnplatz</l><lb/>
              <l>Zeigte &#x017F;ich &#x017F;chon in der Na&#x0364;he. Die Pforte von Wolken erbauet<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wich</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0038] Der Meßias. Ehmals der Nil, in vierzehn Geſtade zuſammen gedraͤnget, Und ihr, der Koͤnige Grab, unſterbliche Pyramiden. Niemals hat noch ein Auge, von kleinern Himmeln umgraͤnzet, Dieſe verlaßnen Gefilde geſehen, wo naͤchtliches Erdreich Unbewohnt ruht, wo kein Laut von Menſchenſtimmen ertoͤnet, Wo kein Todter begraben liegt, wo kein Auferſtehn ſeyn wird. Aber zu tiefen Gedanken, und zur Betrachtung gewidmet, Machen ſie Seraphim herrlich, wenn ſie auf ihren Gebirgen, Orionen gleich, gehn, und in prophetiſche Stille Sanft verloren, der Menſchen zukuͤnftige Seligkeit anſchaun. Mitten in dieſen Gefilden erhebt ſich die engliſche Pforte, Durch die der Erde Beſchuͤtzer zu ihrem Heiligthum eingehn. Wie zur Zeit des belebenden Winters ein heiliger Feſttag Ueber beſchneyten Gebirgen nach truͤben Tagen hervorgeht; Wolken und Nacht entfliehen vor ihm, die beeiſten Gefilde Hohe durchſichtige Waͤlder entnebeln ihr Antlitz, und glaͤnzen: Alſo gieng Gabriel itzt auf den mitternaͤchtlichen Bergen, Und ſchon ſtand ſein unſterblicher Fuß an der heiligen Pforte, Die ſich vor ihm wie Fluͤgel der rauſchenden Cherubim, aufthat. Schon war ſie hinter ihm wieder geſchloſſen. Nun gieng der Seraph Jn den Tiefen der Erde. Da waͤlzten ſich Oceane Um ihn mit langſamer Flut zum menſchenloſen Geſtade. Alle Soͤhne der Oceane, gewaltige Fluͤſſe, Floſſen, wie Ungewitter ſich aus den Wuͤſten heraufziehn, Fern und rauhtoͤnend ihm nach. Er gieng, und ſein heiliger Wohnplatz Zeigte ſich ſchon in der Naͤhe. Die Pforte von Wolken erbauet Wich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/38
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/38>, abgerufen am 28.03.2024.