Ob sie mit ihrem silbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte. Lazarus geht still aus der Versammlung, und da er hinauskömmt, Sieht er mit traurigem Angesicht nieder, und denkt bey sich selber: Warum weint sie? Jch konnte sie länger weinen nicht sehen, Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zärtliche Thränen, Schöne Thränen, so still, so zitternd im Auge gebildet! Wäre nur eine von euch um meinentwillen geweinet; O so wollt ich noch selig mich preisen. Jch klage noch immer, Jmmer um sie! Mein Leben voll Quaal, mein trauriges Leben, Jst noch immer von ihr, ein einziger langer Gedanke! O du! welches in mir unsterblich ist, dieser Hütte Hohe Bewohnerinn, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels, Des Erschaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbinn! Oder wie sonst dich bey deiner Geburt die Unsterblichen nannten, Red, ich frage dich, lehre du mich! Enthülle das Dunkle Meines Schicksals! Eröfne die Nacht, die über mich herhängt! Red, ich frage dich, antworte mir! Jch bin müde, zu weinen! Müd, in ewige Wehmut ergossen, mein Leben zu trauern! Müde des unaussprechlichen Kummers! Der Todesangst müde! Warum fühl ich in mir, wenn ich die Unsterbliche sehe, Oder, von ihrem himmlischen Anblick entfernet, sie denke, Warum fühl ich alsdann, im hoch aufwallenden Herzen, Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war? Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken! Jeden von ihnen mit seligem Lächeln und Hoheit bekleidet! Jeden mit Klarheit umstralt, und der Unvergänglichkeit würdig! Tausend bey tausend steigen sie auf, wie auf goldenen Stufen,
Hoch
Der Meßias.
Ob ſie mit ihrem ſilbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte. Lazarus geht ſtill aus der Verſammlung, und da er hinauskoͤmmt, Sieht er mit traurigem Angeſicht nieder, und denkt bey ſich ſelber: Warum weint ſie? Jch konnte ſie laͤnger weinen nicht ſehen, Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zaͤrtliche Thraͤnen, Schoͤne Thraͤnen, ſo ſtill, ſo zitternd im Auge gebildet! Waͤre nur eine von euch um meinentwillen geweinet; O ſo wollt ich noch ſelig mich preiſen. Jch klage noch immer, Jmmer um ſie! Mein Leben voll Quaal, mein trauriges Leben, Jſt noch immer von ihr, ein einziger langer Gedanke! O du! welches in mir unſterblich iſt, dieſer Huͤtte Hohe Bewohnerinn, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels, Des Erſchaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbinn! Oder wie ſonſt dich bey deiner Geburt die Unſterblichen nannten, Red, ich frage dich, lehre du mich! Enthuͤlle das Dunkle Meines Schickſals! Eroͤfne die Nacht, die uͤber mich herhaͤngt! Red, ich frage dich, antworte mir! Jch bin muͤde, zu weinen! Muͤd, in ewige Wehmut ergoſſen, mein Leben zu trauern! Muͤde des unausſprechlichen Kummers! Der Todesangſt muͤde! Warum fuͤhl ich in mir, wenn ich die Unſterbliche ſehe, Oder, von ihrem himmliſchen Anblick entfernet, ſie denke, Warum fuͤhl ich alsdann, im hoch aufwallenden Herzen, Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war? Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken! Jeden von ihnen mit ſeligem Laͤcheln und Hoheit bekleidet! Jeden mit Klarheit umſtralt, und der Unvergaͤnglichkeit wuͤrdig! Tauſend bey tauſend ſteigen ſie auf, wie auf goldenen Stufen,
Hoch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><lgtype="poem"><lgn="4"><l><pbfacs="#f0144"n="132"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Der Meßias.</hi></fw></l><lb/><l>Ob ſie mit ihrem ſilbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte.</l><lb/><l>Lazarus geht ſtill aus der Verſammlung, und da er hinauskoͤmmt,</l><lb/><l>Sieht er mit traurigem Angeſicht nieder, und denkt bey ſich ſelber:</l><lb/><l>Warum weint ſie? Jch konnte ſie laͤnger weinen nicht ſehen,</l><lb/><l>Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zaͤrtliche Thraͤnen,</l><lb/><l>Schoͤne Thraͤnen, ſo ſtill, ſo zitternd im Auge gebildet!</l><lb/><l>Waͤre nur eine von euch um meinentwillen geweinet;</l><lb/><l>O ſo wollt ich noch ſelig mich preiſen. Jch klage noch immer,</l><lb/><l>Jmmer um ſie! Mein Leben voll Quaal, mein trauriges Leben,</l><lb/><l>Jſt noch immer von ihr, ein einziger langer Gedanke!</l><lb/><l>O du! welches in mir unſterblich iſt, dieſer Huͤtte</l><lb/><l>Hohe Bewohnerinn, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels,</l><lb/><l>Des Erſchaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbinn!</l><lb/><l>Oder wie ſonſt dich bey deiner Geburt die Unſterblichen nannten,</l><lb/><l>Red, ich frage dich, lehre du mich! Enthuͤlle das Dunkle</l><lb/><l>Meines Schickſals! Eroͤfne die Nacht, die uͤber mich herhaͤngt!</l><lb/><l>Red, ich frage dich, antworte mir! Jch bin muͤde, zu weinen!</l><lb/><l>Muͤd, in ewige Wehmut ergoſſen, mein Leben zu trauern!</l><lb/><l>Muͤde des unausſprechlichen Kummers! Der Todesangſt muͤde!</l><lb/><l>Warum fuͤhl ich in mir, wenn ich die Unſterbliche ſehe,</l><lb/><l>Oder, von ihrem himmliſchen Anblick entfernet, ſie denke,</l><lb/><l>Warum fuͤhl ich alsdann, im hoch aufwallenden Herzen,</l><lb/><l>Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war?</l><lb/><l>Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken!</l><lb/><l>Jeden von ihnen mit ſeligem Laͤcheln und Hoheit bekleidet!</l><lb/><l>Jeden mit Klarheit umſtralt, und der Unvergaͤnglichkeit wuͤrdig!</l><lb/><l>Tauſend bey tauſend ſteigen ſie auf, wie auf goldenen Stufen,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Hoch</fw><lb/></l></lg></lg></div></div></body></text></TEI>
[132/0144]
Der Meßias.
Ob ſie mit ihrem ſilbernen Schleyer ihr Antlitz gleich deckte.
Lazarus geht ſtill aus der Verſammlung, und da er hinauskoͤmmt,
Sieht er mit traurigem Angeſicht nieder, und denkt bey ſich ſelber:
Warum weint ſie? Jch konnte ſie laͤnger weinen nicht ſehen,
Denn es brach mir mein Herz! Ach, theure zaͤrtliche Thraͤnen,
Schoͤne Thraͤnen, ſo ſtill, ſo zitternd im Auge gebildet!
Waͤre nur eine von euch um meinentwillen geweinet;
O ſo wollt ich noch ſelig mich preiſen. Jch klage noch immer,
Jmmer um ſie! Mein Leben voll Quaal, mein trauriges Leben,
Jſt noch immer von ihr, ein einziger langer Gedanke!
O du! welches in mir unſterblich iſt, dieſer Huͤtte
Hohe Bewohnerinn, Seele, Hauch Gottes, Tochter des Himmels,
Des Erſchaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbinn!
Oder wie ſonſt dich bey deiner Geburt die Unſterblichen nannten,
Red, ich frage dich, lehre du mich! Enthuͤlle das Dunkle
Meines Schickſals! Eroͤfne die Nacht, die uͤber mich herhaͤngt!
Red, ich frage dich, antworte mir! Jch bin muͤde, zu weinen!
Muͤd, in ewige Wehmut ergoſſen, mein Leben zu trauern!
Muͤde des unausſprechlichen Kummers! Der Todesangſt muͤde!
Warum fuͤhl ich in mir, wenn ich die Unſterbliche ſehe,
Oder, von ihrem himmliſchen Anblick entfernet, ſie denke,
Warum fuͤhl ich alsdann, im hoch aufwallenden Herzen,
Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war?
Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken!
Jeden von ihnen mit ſeligem Laͤcheln und Hoheit bekleidet!
Jeden mit Klarheit umſtralt, und der Unvergaͤnglichkeit wuͤrdig!
Tauſend bey tauſend ſteigen ſie auf, wie auf goldenen Stufen,
Hoch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/144>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.