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Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

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nur als Invaliden und emeriti hier in Ruhe
gesezt verbleiben müssen. Einst, als sie noch
aufrecht standen, und Arme und Schenkel und
Häupter hatten, lag ein ganzes großes Hel-
dengeschlecht vor ihnen im Staube; jezt ist
das umgekehrt, und sie liegen im Boden,
während unser aufgeklärtes Jahrhundert auf-
recht steht, und wir selbst uns bemühen leid-
liche Götter abzugeben.

Kunstfreund, wohin sind wir gekommen,
daß wir es wagen, diese großen Göttergräber
aufzuwühlen, und die unsterblichen Todten
ans Licht zu ziehen, da wir doch wissen, wie
hart bei den Römern die bloße Verletzung der
Menschengrüfte verpönt war. Freilich achten
Aufgeklärte diese Verstorbenen jezt geradezu
für Götzen, und die Kunst ist nur noch eine
heimlich eingeschlichene heidnische Sekte, die
an ihnen vergöttert und anbetet -- aber was
ist es auch mit ihr, Kunstfreund? Die Alten
sangen Hymnen und Aeschylus und Sophokles
dichteten ihre Chöre zum Lobe der Götter;

nur als Invaliden und emeriti hier in Ruhe
geſezt verbleiben muͤſſen. Einſt, als ſie noch
aufrecht ſtanden, und Arme und Schenkel und
Haͤupter hatten, lag ein ganzes großes Hel-
dengeſchlecht vor ihnen im Staube; jezt iſt
das umgekehrt, und ſie liegen im Boden,
waͤhrend unſer aufgeklaͤrtes Jahrhundert auf-
recht ſteht, und wir ſelbſt uns bemuͤhen leid-
liche Goͤtter abzugeben.

Kunſtfreund, wohin ſind wir gekommen,
daß wir es wagen, dieſe großen Goͤttergraͤber
aufzuwuͤhlen, und die unſterblichen Todten
ans Licht zu ziehen, da wir doch wiſſen, wie
hart bei den Roͤmern die bloße Verletzung der
Menſchengruͤfte verpoͤnt war. Freilich achten
Aufgeklaͤrte dieſe Verſtorbenen jezt geradezu
fuͤr Goͤtzen, und die Kunſt iſt nur noch eine
heimlich eingeſchlichene heidniſche Sekte, die
an ihnen vergoͤttert und anbetet — aber was
iſt es auch mit ihr, Kunſtfreund? Die Alten
ſangen Hymnen und Aeſchylus und Sophokles
dichteten ihre Choͤre zum Lobe der Goͤtter;

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[224/0226] nur als Invaliden und emeriti hier in Ruhe geſezt verbleiben muͤſſen. Einſt, als ſie noch aufrecht ſtanden, und Arme und Schenkel und Haͤupter hatten, lag ein ganzes großes Hel- dengeſchlecht vor ihnen im Staube; jezt iſt das umgekehrt, und ſie liegen im Boden, waͤhrend unſer aufgeklaͤrtes Jahrhundert auf- recht ſteht, und wir ſelbſt uns bemuͤhen leid- liche Goͤtter abzugeben. Kunſtfreund, wohin ſind wir gekommen, daß wir es wagen, dieſe großen Goͤttergraͤber aufzuwuͤhlen, und die unſterblichen Todten ans Licht zu ziehen, da wir doch wiſſen, wie hart bei den Roͤmern die bloße Verletzung der Menſchengruͤfte verpoͤnt war. Freilich achten Aufgeklaͤrte dieſe Verſtorbenen jezt geradezu fuͤr Goͤtzen, und die Kunſt iſt nur noch eine heimlich eingeſchlichene heidniſche Sekte, die an ihnen vergoͤttert und anbetet — aber was iſt es auch mit ihr, Kunſtfreund? Die Alten ſangen Hymnen und Aeſchylus und Sophokles dichteten ihre Choͤre zum Lobe der Goͤtter;

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Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/226>, abgerufen am 24.11.2024.