bet, ernster Jüngling! Siehst du an meiner Brust die Geliebte, o so brich sie schnell die Rose, und wirf den weißen Schleier über das blühende Gesicht. Die weiße Rose des Todes ist schöner als ihre Schwester, denn sie erin- nert an das Leben und macht es wünschens- werth und theuer. Ueber dem Grabhügel der Geliebten schwebt ihre Gestalt ewig jugendlich und bekränzt und nimmer entstellt die Wirk- lichkeit ihre Züge, und berührt sie nicht daß sie erkalte und die Umarmung sich ende. Ent- führe sie schnell die Geliebte, Jüngling, denn die Entflohene kehrt wieder in meinen Träu- men und Gesängen, sie windet den Kranz meiner Lieder und entschwebt in meinen Tö- nen zum Himmel. Nur die Lebende stirbt, die Todte bleibt bei mir, und ewig ist unsre Liebe und unsre Umarmung! --
Horch! -- Tanzmusik und Todtengesang -- das schüttelt lustig seine Schellen! Rüstig,
bet, ernſter Juͤngling! Siehſt du an meiner Bruſt die Geliebte, o ſo brich ſie ſchnell die Roſe, und wirf den weißen Schleier uͤber das bluͤhende Geſicht. Die weiße Roſe des Todes iſt ſchoͤner als ihre Schweſter, denn ſie erin- nert an das Leben und macht es wuͤnſchens- werth und theuer. Ueber dem Grabhuͤgel der Geliebten ſchwebt ihre Geſtalt ewig jugendlich und bekraͤnzt und nimmer entſtellt die Wirk- lichkeit ihre Zuͤge, und beruͤhrt ſie nicht daß ſie erkalte und die Umarmung ſich ende. Ent- fuͤhre ſie ſchnell die Geliebte, Juͤngling, denn die Entflohene kehrt wieder in meinen Traͤu- men und Geſaͤngen, ſie windet den Kranz meiner Lieder und entſchwebt in meinen Toͤ- nen zum Himmel. Nur die Lebende ſtirbt, die Todte bleibt bei mir, und ewig iſt unſre Liebe und unſre Umarmung! —
Horch! — Tanzmuſik und Todtengeſang — das ſchuͤttelt luſtig ſeine Schellen! Ruͤſtig,
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bet, ernſter Juͤngling! Siehſt du an meiner
Bruſt die Geliebte, o ſo brich ſie ſchnell die
Roſe, und wirf den weißen Schleier uͤber das
bluͤhende Geſicht. Die weiße Roſe des Todes
iſt ſchoͤner als ihre Schweſter, denn ſie erin-
nert an das Leben und macht es wuͤnſchens-
werth und theuer. Ueber dem Grabhuͤgel der
Geliebten ſchwebt ihre Geſtalt ewig jugendlich
und bekraͤnzt und nimmer entſtellt die Wirk-
lichkeit ihre Zuͤge, und beruͤhrt ſie nicht daß ſie
erkalte und die Umarmung ſich ende. Ent-
fuͤhre ſie ſchnell die Geliebte, Juͤngling, denn
die Entflohene kehrt wieder in meinen Traͤu-
men und Geſaͤngen, ſie windet den Kranz
meiner Lieder und entſchwebt in meinen Toͤ-
nen zum Himmel. Nur die Lebende ſtirbt,
die Todte bleibt bei mir, und ewig iſt unſre
Liebe und unſre Umarmung! —
Horch! — Tanzmuſik und Todtengeſang —
das ſchuͤttelt luſtig ſeine Schellen! Ruͤſtig,
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Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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