Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

Bild:
<< vorherige Seite

Mir gaben zuerst einige poetische Flugblät-
ter einen leidlichen Namen, die ich aus der
Werkstätte meines Schuhmachers fliegen ließ; das
erste enthielt eine Leichenrede die ich nieder-
schrieb als diesem ein Knäblein geboren wurde,
und ich erinnere mich nur noch blos an den
Anfang, der ohngefähr so lautete:

"Da kleiden sie ihn ein für seinen ersten
Sarg, bis der zweite fertig worden, an dem
seine Thaten und Thorheiten eingegraben sind;
so wie man Fürstenleichen erst in einen provi-
sorischen Sarg einzulegen pflegt, bis sie dann
später den zinnernen in die Gruft hinabtragen,
der würdig mit Trophäen und Inschriften ver-
ziert ist, und den Leichnam zum zweitenmale
einsargen. -- Traut auch, ich bitte euch, dem
Lebensscheine und den Rosen auf den Wangen
des Knaben nicht; das ist die Kunst der Na-
tur, wodurch sie, gleich einem geschikten Arzte,
den einbalsamirten Körper eine längere Zeit
in einer angenehmen Täuschung erhält; in

Mir gaben zuerſt einige poetiſche Flugblaͤt-
ter einen leidlichen Namen, die ich aus der
Werkſtaͤtte meines Schuhmachers fliegen ließ; das
erſte enthielt eine Leichenrede die ich nieder-
ſchrieb als dieſem ein Knaͤblein geboren wurde,
und ich erinnere mich nur noch blos an den
Anfang, der ohngefaͤhr ſo lautete:

„Da kleiden ſie ihn ein fuͤr ſeinen erſten
Sarg, bis der zweite fertig worden, an dem
ſeine Thaten und Thorheiten eingegraben ſind;
ſo wie man Fuͤrſtenleichen erſt in einen provi-
ſoriſchen Sarg einzulegen pflegt, bis ſie dann
ſpaͤter den zinnernen in die Gruft hinabtragen,
der wuͤrdig mit Trophaͤen und Inſchriften ver-
ziert iſt, und den Leichnam zum zweitenmale
einſargen. — Traut auch, ich bitte euch, dem
Lebensſcheine und den Roſen auf den Wangen
des Knaben nicht; das iſt die Kunſt der Na-
tur, wodurch ſie, gleich einem geſchikten Arzte,
den einbalſamirten Koͤrper eine laͤngere Zeit
in einer angenehmen Taͤuſchung erhaͤlt; in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0116" n="114"/>
        <p>Mir gaben zuer&#x017F;t einige poeti&#x017F;che Flugbla&#x0364;t-<lb/>
ter einen leidlichen Namen, die ich aus der<lb/>
Werk&#x017F;ta&#x0364;tte meines Schuhmachers fliegen ließ; das<lb/>
er&#x017F;te enthielt eine Leichenrede die ich nieder-<lb/>
&#x017F;chrieb als die&#x017F;em ein Kna&#x0364;blein geboren wurde,<lb/>
und ich erinnere mich nur noch blos an den<lb/>
Anfang, der ohngefa&#x0364;hr &#x017F;o lautete:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Da kleiden &#x017F;ie ihn ein fu&#x0364;r &#x017F;einen er&#x017F;ten<lb/>
Sarg, bis der zweite fertig worden, an dem<lb/>
&#x017F;eine Thaten und Thorheiten eingegraben &#x017F;ind;<lb/>
&#x017F;o wie man Fu&#x0364;r&#x017F;tenleichen er&#x017F;t in einen provi-<lb/>
&#x017F;ori&#x017F;chen Sarg einzulegen pflegt, bis &#x017F;ie dann<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;ter den zinnernen in die Gruft hinabtragen,<lb/>
der wu&#x0364;rdig mit Tropha&#x0364;en und In&#x017F;chriften ver-<lb/>
ziert i&#x017F;t, und den Leichnam zum zweitenmale<lb/>
ein&#x017F;argen. &#x2014; Traut auch, ich bitte euch, dem<lb/>
Lebens&#x017F;cheine und den Ro&#x017F;en auf den Wangen<lb/>
des Knaben nicht; das i&#x017F;t die Kun&#x017F;t der Na-<lb/>
tur, wodurch &#x017F;ie, gleich einem ge&#x017F;chikten Arzte,<lb/>
den einbal&#x017F;amirten Ko&#x0364;rper eine la&#x0364;ngere Zeit<lb/>
in einer angenehmen Ta&#x0364;u&#x017F;chung erha&#x0364;lt; in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0116] Mir gaben zuerſt einige poetiſche Flugblaͤt- ter einen leidlichen Namen, die ich aus der Werkſtaͤtte meines Schuhmachers fliegen ließ; das erſte enthielt eine Leichenrede die ich nieder- ſchrieb als dieſem ein Knaͤblein geboren wurde, und ich erinnere mich nur noch blos an den Anfang, der ohngefaͤhr ſo lautete: „Da kleiden ſie ihn ein fuͤr ſeinen erſten Sarg, bis der zweite fertig worden, an dem ſeine Thaten und Thorheiten eingegraben ſind; ſo wie man Fuͤrſtenleichen erſt in einen provi- ſoriſchen Sarg einzulegen pflegt, bis ſie dann ſpaͤter den zinnernen in die Gruft hinabtragen, der wuͤrdig mit Trophaͤen und Inſchriften ver- ziert iſt, und den Leichnam zum zweitenmale einſargen. — Traut auch, ich bitte euch, dem Lebensſcheine und den Roſen auf den Wangen des Knaben nicht; das iſt die Kunſt der Na- tur, wodurch ſie, gleich einem geſchikten Arzte, den einbalſamirten Koͤrper eine laͤngere Zeit in einer angenehmen Taͤuſchung erhaͤlt; in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/116
Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/116>, abgerufen am 09.05.2024.