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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen pkl_132.002
bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen. pkl_132.003
-- Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere pkl_132.004
Verbreitung,
theils durch ihr inneres Wesen pkl_132.005
dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen pkl_132.006
Weltbetrachtung zu fassen;
sie nähren pkl_132.007
unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der pkl_132.008
Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen pkl_132.009
die Sagen schon zu einer stärkern Speise pkl_132.010
dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere pkl_132.011
Farbe tragen,
und mehr Ernst und Nachdenken pkl_132.012
fordern.
Ueber den Vorzug beider zu streiten, pkl_132.013
wäre ungeschickt, auch soll durch diese Darlegung ihrer pkl_132.014
Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, pkl_132.015
noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen pkl_132.016
und Wendungen in einander greifend, sich mehr pkl_132.017
oder weniger ähnlich werden."

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§. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019
Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die Volksmährchen pkl_132.020
im engern Sinne) und Sagen sind besonders pkl_132.021
durch die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm pkl_132.022
gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem pkl_132.023
deutschen Vaterlande ein Dienst geleistet, den es nicht pkl_132.024
genug anerkennen, für den es nicht genug danken kann. pkl_132.025
Nicht nur ist uns und der Nachwelt damit ein Schatz pkl_132.026
der herrlichsten Poesie gesichert: die "Kinder- und pkl_132.027
Hausmährchen," die "deutschen Sagen," sie pkl_132.028
sind uns überdieß zugleich ein Siegel und ein Spiegel. pkl_132.029
Ein Siegel -- dafür, daß wir ein poetisches Volk sind, pkl_132.030
das auf seinen eignen Füßen wohl stehen kann, dem pkl_132.031
nicht Noth ist, von der Fremde zu borgen und in der

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Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen pkl_132.002
bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen. pkl_132.003
— Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere pkl_132.004
Verbreitung,
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Weltbetrachtung zu fassen;
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Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, pkl_132.015
noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen pkl_132.016
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oder weniger ähnlich werden.“

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§. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019
Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die Volksmährchen pkl_132.020
im engern Sinne) und Sagen sind besonders pkl_132.021
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gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem pkl_132.023
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[132/0158] pkl_132.001 Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen pkl_132.002 bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen. pkl_132.003 — Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere pkl_132.004 Verbreitung, theils durch ihr inneres Wesen pkl_132.005 dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen pkl_132.006 Weltbetrachtung zu fassen; sie nähren pkl_132.007 unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der pkl_132.008 Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen pkl_132.009 die Sagen schon zu einer stärkern Speise pkl_132.010 dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere pkl_132.011 Farbe tragen, und mehr Ernst und Nachdenken pkl_132.012 fordern. Ueber den Vorzug beider zu streiten, pkl_132.013 wäre ungeschickt, auch soll durch diese Darlegung ihrer pkl_132.014 Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, pkl_132.015 noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen pkl_132.016 und Wendungen in einander greifend, sich mehr pkl_132.017 oder weniger ähnlich werden.“ pkl_132.018 §. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch pkl_132.019 Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die Volksmährchen pkl_132.020 im engern Sinne) und Sagen sind besonders pkl_132.021 durch die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm pkl_132.022 gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem pkl_132.023 deutschen Vaterlande ein Dienst geleistet, den es nicht pkl_132.024 genug anerkennen, für den es nicht genug danken kann. pkl_132.025 Nicht nur ist uns und der Nachwelt damit ein Schatz pkl_132.026 der herrlichsten Poesie gesichert: die „Kinder- und pkl_132.027 Hausmährchen,“ die „deutschen Sagen,“ sie pkl_132.028 sind uns überdieß zugleich ein Siegel und ein Spiegel. pkl_132.029 Ein Siegel — dafür, daß wir ein poetisches Volk sind, pkl_132.030 das auf seinen eignen Füßen wohl stehen kann, dem pkl_132.031 nicht Noth ist, von der Fremde zu borgen und in der

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/158>, abgerufen am 25.11.2024.