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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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XIII. Das Lehrgedicht (im engern Sinne).
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§. 168. Nicht jedes Gedicht, mit welchem didaktische pkl_114.003
Tendenzen
verbunden werden, erhält pkl_114.004
deshalb den Namen Lehrgedicht. Jm engern Sinne pkl_114.005
wenigstens können nur diejenigen Gedichte so genannt pkl_114.006
werden, welche sich in einer ganzen Reihe pkl_114.007
von Entwickelungen und Betrachtungen pkl_114.008
über einen Gegenstand verbreiten
und die pkl_114.009
Belehrung als Hauptzweck vorwalten lassen. pkl_114.010
Jeder, die höheren oder auch nur gewöhnliche Jnteressen pkl_114.011
der Menschheit berührende Gegenstand kann pkl_114.012
Objekt des Lehrgedichts werden; nur muß derselbe pkl_114.013
auch das Gefühl oder die Phantasie, nicht bloß pkl_114.014
den Verstand ansprechen. Es wäre z. B. thöricht, pkl_114.015
einen reinmathematischen Gegenstand zum Vorwurf pkl_114.016
eines Lehrgedichts zu machen.

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Unter welchen Bedingungen das Lehrgedicht, pkl_114.018
wie alle Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt, poetisch pkl_114.019
zulässig sei,
darüber haben wir uns bereits in pkl_114.020
§. 116 ausgesprochen. Der Umstand, daß mit dem pkl_114.021
Lehrgedicht nicht noch besondere Zwecke (wie z. B. pkl_114.022
mit der Satyre) verbunden werden, daß es sich vielmehr pkl_114.023
im Kreise des Allgemeinen hält, macht eine pkl_114.024
um so strengere Aufmerksamkeit des Dichters in Rücksicht pkl_114.025
des poetischen Elements nöthig. Wie sehr pkl_114.026
er auch den logischen Zusammenhang zu beachten und pkl_114.027
klare Entwickelung der Gedanken zu erzielen hat, so pkl_114.028
muß er doch immer mehr auf das Gefühl, als auf pkl_114.029
den Verstand zu wirken suchen. Dadurch allein vermag pkl_114.030
er dem Gedichte poetischen Werth zu geben,

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XIII. Das Lehrgedicht (im engern Sinne).
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Tendenzen
verbunden werden, erhält pkl_114.004
deshalb den Namen Lehrgedicht. Jm engern Sinne pkl_114.005
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Jeder, die höheren oder auch nur gewöhnliche Jnteressen pkl_114.011
der Menschheit berührende Gegenstand kann pkl_114.012
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einen reinmathematischen Gegenstand zum Vorwurf pkl_114.016
eines Lehrgedichts zu machen.

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Unter welchen Bedingungen das Lehrgedicht, pkl_114.018
wie alle Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt, poetisch pkl_114.019
zulässig sei,
darüber haben wir uns bereits in pkl_114.020
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Lehrgedicht nicht noch besondere Zwecke (wie z. B. pkl_114.022
mit der Satyre) verbunden werden, daß es sich vielmehr pkl_114.023
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klare Entwickelung der Gedanken zu erzielen hat, so pkl_114.028
muß er doch immer mehr auf das Gefühl, als auf pkl_114.029
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[114/0140] pkl_114.001 XIII. Das Lehrgedicht (im engern Sinne). pkl_114.002 §. 168. Nicht jedes Gedicht, mit welchem didaktische pkl_114.003 Tendenzen verbunden werden, erhält pkl_114.004 deshalb den Namen Lehrgedicht. Jm engern Sinne pkl_114.005 wenigstens können nur diejenigen Gedichte so genannt pkl_114.006 werden, welche sich in einer ganzen Reihe pkl_114.007 von Entwickelungen und Betrachtungen pkl_114.008 über einen Gegenstand verbreiten und die pkl_114.009 Belehrung als Hauptzweck vorwalten lassen. pkl_114.010 Jeder, die höheren oder auch nur gewöhnliche Jnteressen pkl_114.011 der Menschheit berührende Gegenstand kann pkl_114.012 Objekt des Lehrgedichts werden; nur muß derselbe pkl_114.013 auch das Gefühl oder die Phantasie, nicht bloß pkl_114.014 den Verstand ansprechen. Es wäre z. B. thöricht, pkl_114.015 einen reinmathematischen Gegenstand zum Vorwurf pkl_114.016 eines Lehrgedichts zu machen. pkl_114.017 Unter welchen Bedingungen das Lehrgedicht, pkl_114.018 wie alle Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt, poetisch pkl_114.019 zulässig sei, darüber haben wir uns bereits in pkl_114.020 §. 116 ausgesprochen. Der Umstand, daß mit dem pkl_114.021 Lehrgedicht nicht noch besondere Zwecke (wie z. B. pkl_114.022 mit der Satyre) verbunden werden, daß es sich vielmehr pkl_114.023 im Kreise des Allgemeinen hält, macht eine pkl_114.024 um so strengere Aufmerksamkeit des Dichters in Rücksicht pkl_114.025 des poetischen Elements nöthig. Wie sehr pkl_114.026 er auch den logischen Zusammenhang zu beachten und pkl_114.027 klare Entwickelung der Gedanken zu erzielen hat, so pkl_114.028 muß er doch immer mehr auf das Gefühl, als auf pkl_114.029 den Verstand zu wirken suchen. Dadurch allein vermag pkl_114.030 er dem Gedichte poetischen Werth zu geben,

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/140>, abgerufen am 07.05.2024.