Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_093.001 pkl_093.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0119" n="93"/><lb n="pkl_093.001"/> die sich selbst die Musik ersetzen und des Gesanges entbehren <lb n="pkl_093.002"/> will. Sie sucht sich selbstständig hinzupflanzen, <lb n="pkl_093.003"/> sie kann gelesen und braucht nicht so nothwendig, als <lb n="pkl_093.004"/> das Lied gesungen zu werden. Allein eben diese Selbstständigkeit <lb n="pkl_093.005"/> wird doch nur in der Ode erhalten, indem <lb n="pkl_093.006"/> sie die mangelnde Musik in sich selbst herzustellen sucht. <lb n="pkl_093.007"/> — Aus dem ganz musikalischen Charakter der Ode <lb n="pkl_093.008"/> rührt es her, daß sie uns so leicht verführt, bloß dem <lb n="pkl_093.009"/> Klange nach zu lesen, über den Tonfall uns zu freuen <lb n="pkl_093.010"/> und unvermuthet Sinn und Gedanken zu vergessen. <lb n="pkl_093.011"/> Sie verlangt laut gelesen zu werden; das Ohr, das <lb n="pkl_093.012"/> musikalische Organ, will an ihr seinen vorzüglichsten <lb n="pkl_093.013"/> Genuß; die Ode ist daher dort am trägsten und unleidlichsten, <lb n="pkl_093.014"/> wo sie philosophische Abhandlung oder voll <lb n="pkl_093.015"/> von kopfanstrengenden Allegorien und Bildern ist. — <lb n="pkl_093.016"/> Nicht allein will das Ohr sein Recht im Empfangen <lb n="pkl_093.017"/> der Ode haben, sondern es will auch bei Gesetz und <lb n="pkl_093.018"/> Regel der Ode mitsprechen. Die Ode widersetzt sich und <lb n="pkl_093.019"/> widerstrebt allem logischen verständigen Gange und jeder <lb n="pkl_093.020"/> Regel, die eine bestimmte Ordnung da vorschreiben <lb n="pkl_093.021"/> will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein soll, <lb n="pkl_093.022"/> der vor jedem Gegenstand anders operirt; wo sich eine <lb n="pkl_093.023"/> Empfindung, ein Gefühl aus sich selbst und nach seinem <lb n="pkl_093.024"/> eignen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos erscheinenden <lb n="pkl_093.025"/> poetischem Tonstück formen will.“ <hi rendition="#g">Gervinus.</hi> <lb n="pkl_093.026"/> Man meine aber nicht, daß in der Ode <hi rendition="#g">Planlosigkeit</hi> <lb n="pkl_093.027"/> herrschen, daß sie sich des <hi rendition="#g">logischen Zusammenhangs</hi> <lb n="pkl_093.028"/> ohne Weiteres <hi rendition="#g">entschlagen</hi> und als rein <lb n="pkl_093.029"/> von der <hi rendition="#g">Willkühr</hi> erzeugt produciren dürfe. Wie <lb n="pkl_093.030"/> <hi rendition="#g">hoch</hi> den Dichter seine Phantasie führen mag, nimmer <lb n="pkl_093.031"/> darf sie ihn von seinem <hi rendition="#g">Gegenstande ab-</hi> und in </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0119]
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die sich selbst die Musik ersetzen und des Gesanges entbehren pkl_093.002
will. Sie sucht sich selbstständig hinzupflanzen, pkl_093.003
sie kann gelesen und braucht nicht so nothwendig, als pkl_093.004
das Lied gesungen zu werden. Allein eben diese Selbstständigkeit pkl_093.005
wird doch nur in der Ode erhalten, indem pkl_093.006
sie die mangelnde Musik in sich selbst herzustellen sucht. pkl_093.007
— Aus dem ganz musikalischen Charakter der Ode pkl_093.008
rührt es her, daß sie uns so leicht verführt, bloß dem pkl_093.009
Klange nach zu lesen, über den Tonfall uns zu freuen pkl_093.010
und unvermuthet Sinn und Gedanken zu vergessen. pkl_093.011
Sie verlangt laut gelesen zu werden; das Ohr, das pkl_093.012
musikalische Organ, will an ihr seinen vorzüglichsten pkl_093.013
Genuß; die Ode ist daher dort am trägsten und unleidlichsten, pkl_093.014
wo sie philosophische Abhandlung oder voll pkl_093.015
von kopfanstrengenden Allegorien und Bildern ist. — pkl_093.016
Nicht allein will das Ohr sein Recht im Empfangen pkl_093.017
der Ode haben, sondern es will auch bei Gesetz und pkl_093.018
Regel der Ode mitsprechen. Die Ode widersetzt sich und pkl_093.019
widerstrebt allem logischen verständigen Gange und jeder pkl_093.020
Regel, die eine bestimmte Ordnung da vorschreiben pkl_093.021
will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein soll, pkl_093.022
der vor jedem Gegenstand anders operirt; wo sich eine pkl_093.023
Empfindung, ein Gefühl aus sich selbst und nach seinem pkl_093.024
eignen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos erscheinenden pkl_093.025
poetischem Tonstück formen will.“ Gervinus. pkl_093.026
Man meine aber nicht, daß in der Ode Planlosigkeit pkl_093.027
herrschen, daß sie sich des logischen Zusammenhangs pkl_093.028
ohne Weiteres entschlagen und als rein pkl_093.029
von der Willkühr erzeugt produciren dürfe. Wie pkl_093.030
hoch den Dichter seine Phantasie führen mag, nimmer pkl_093.031
darf sie ihn von seinem Gegenstande ab- und in
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