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Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912.

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Zur Begründung meines ersten Leitsatzes möchte ich Jhnen einen
kurzen Überblick über die Geschichte unseres Verbandes im allgemeinen
und die des Paragraphen im besonderen geben.

Eine historische Untersuchung unseres Ursprungs, unseres Werdens
und Wachsens zeigt Jhnen, warum wir uns gerade so und nicht anders
entwickelt haben und entwickeln mußten, zeigt Jhnen, wo die starken
Wurzeln unserer Kraft liegen und wohin unsere Weiterentwicklung strebt,
will unser Verband sich zu einem innerlich gesunden und starken Baum
auswachsen, der allen Stürmen Trotz beut und allen Schatten spendet.

Jch stütze mich bei meinen Ausführungen teils auf eigens hierzu
eingeholte Privatauskünfte unserer Führerinnen, der Gründerinnen unseres
Verbandes, teils auf einige Flugschriften des preußischen Landesvereins.

Das Geburtsjahr der Frauenstimmrechtsidee in unserm Vaterland
war das Revolutionsjahr 1848. Jn den Jahren der Reaktion aber
sank sie in einen tiefen Dornröschenschlummer, aus dem erst Frau
Hedwig Dohm sie in ihrem 1870 erschienenen Werk: "Der Frauen
Natur und Recht" wieder erweckte. Jm Jahre 1871 wurden von den
Sozialisten die ersten Frauenversammlungen in Leipzig und Chemnitz
abgehalten, und im Anschluß daran bildeten sich die ersten politischen
Frauenorganisationen.

Jm Jahre 1876 berief Bebel in Leipzig eine Volksversammlung
ein mit der Tagesordnung: "Die Stellung der Frau im heutigen Staat
und zum Sozialismus", in der die Frauen sehr zahlreich vertreten
waren und von dem Vortragenden zur agitatorischen Mitarbeit an den
bevorstehenden Reichstagswahlen aufgefordert wurden, natürlich zugunsten
der Sozialdemokratie, da diese für vollkommene soziale und politische
Gleichberechtigung der Frauen einträte.

Jn einer öffentlichen Versammlung aus bürgerlichen Kreisen wurde
die Forderung des Frauenstimmrechts zuerst in Deutschland erhoben am
2. Dezember 1894 in Berlin. Frau Lily von Gyzicki, jetzt die Jhnen
allen bekannte Lily Braun, sprach sie aus in ihrem Referat: "Die
Bürgerpflicht der Frau". Die Versammlungsleiterin war Frau Minna
Cauer. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich gegen die Frauen, die
eine derartige, schier unglaublich radikale Forderung in einer öffentlichen
Versammlung auszusprechen wagten! So war selbst Hedwig Dohm
nicht angegriffen worden, die in zahlreichen Streitschriften diese Frage
jahrelang behandelt hatte.

Aber die Jdee war lebenskräftig, kein Entrüstungssturmwind
konnte sie hinwegfegen. Jm folgenden Jahr, 1895, zwang Bebel durch
seinen Antrag auf Einführung des Reichstagswahlrechts für die Frauen

Zur Begründung meines ersten Leitsatzes möchte ich Jhnen einen
kurzen Überblick über die Geschichte unseres Verbandes im allgemeinen
und die des Paragraphen im besonderen geben.

Eine historische Untersuchung unseres Ursprungs, unseres Werdens
und Wachsens zeigt Jhnen, warum wir uns gerade so und nicht anders
entwickelt haben und entwickeln mußten, zeigt Jhnen, wo die starken
Wurzeln unserer Kraft liegen und wohin unsere Weiterentwicklung strebt,
will unser Verband sich zu einem innerlich gesunden und starken Baum
auswachsen, der allen Stürmen Trotz beut und allen Schatten spendet.

Jch stütze mich bei meinen Ausführungen teils auf eigens hierzu
eingeholte Privatauskünfte unserer Führerinnen, der Gründerinnen unseres
Verbandes, teils auf einige Flugschriften des preußischen Landesvereins.

Das Geburtsjahr der Frauenstimmrechtsidee in unserm Vaterland
war das Revolutionsjahr 1848. Jn den Jahren der Reaktion aber
sank sie in einen tiefen Dornröschenschlummer, aus dem erst Frau
Hedwig Dohm sie in ihrem 1870 erschienenen Werk: „Der Frauen
Natur und Recht“ wieder erweckte. Jm Jahre 1871 wurden von den
Sozialisten die ersten Frauenversammlungen in Leipzig und Chemnitz
abgehalten, und im Anschluß daran bildeten sich die ersten politischen
Frauenorganisationen.

Jm Jahre 1876 berief Bebel in Leipzig eine Volksversammlung
ein mit der Tagesordnung: „Die Stellung der Frau im heutigen Staat
und zum Sozialismus“, in der die Frauen sehr zahlreich vertreten
waren und von dem Vortragenden zur agitatorischen Mitarbeit an den
bevorstehenden Reichstagswahlen aufgefordert wurden, natürlich zugunsten
der Sozialdemokratie, da diese für vollkommene soziale und politische
Gleichberechtigung der Frauen einträte.

Jn einer öffentlichen Versammlung aus bürgerlichen Kreisen wurde
die Forderung des Frauenstimmrechts zuerst in Deutschland erhoben am
2. Dezember 1894 in Berlin. Frau Lily von Gyzicki, jetzt die Jhnen
allen bekannte Lily Braun, sprach sie aus in ihrem Referat: „Die
Bürgerpflicht der Frau“. Die Versammlungsleiterin war Frau Minna
Cauer. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich gegen die Frauen, die
eine derartige, schier unglaublich radikale Forderung in einer öffentlichen
Versammlung auszusprechen wagten! So war selbst Hedwig Dohm
nicht angegriffen worden, die in zahlreichen Streitschriften diese Frage
jahrelang behandelt hatte.

Aber die Jdee war lebenskräftig, kein Entrüstungssturmwind
konnte sie hinwegfegen. Jm folgenden Jahr, 1895, zwang Bebel durch
seinen Antrag auf Einführung des Reichstagswahlrechts für die Frauen

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[4/0004] Zur Begründung meines ersten Leitsatzes möchte ich Jhnen einen kurzen Überblick über die Geschichte unseres Verbandes im allgemeinen und die des Paragraphen im besonderen geben. Eine historische Untersuchung unseres Ursprungs, unseres Werdens und Wachsens zeigt Jhnen, warum wir uns gerade so und nicht anders entwickelt haben und entwickeln mußten, zeigt Jhnen, wo die starken Wurzeln unserer Kraft liegen und wohin unsere Weiterentwicklung strebt, will unser Verband sich zu einem innerlich gesunden und starken Baum auswachsen, der allen Stürmen Trotz beut und allen Schatten spendet. Jch stütze mich bei meinen Ausführungen teils auf eigens hierzu eingeholte Privatauskünfte unserer Führerinnen, der Gründerinnen unseres Verbandes, teils auf einige Flugschriften des preußischen Landesvereins. Das Geburtsjahr der Frauenstimmrechtsidee in unserm Vaterland war das Revolutionsjahr 1848. Jn den Jahren der Reaktion aber sank sie in einen tiefen Dornröschenschlummer, aus dem erst Frau Hedwig Dohm sie in ihrem 1870 erschienenen Werk: „Der Frauen Natur und Recht“ wieder erweckte. Jm Jahre 1871 wurden von den Sozialisten die ersten Frauenversammlungen in Leipzig und Chemnitz abgehalten, und im Anschluß daran bildeten sich die ersten politischen Frauenorganisationen. Jm Jahre 1876 berief Bebel in Leipzig eine Volksversammlung ein mit der Tagesordnung: „Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum Sozialismus“, in der die Frauen sehr zahlreich vertreten waren und von dem Vortragenden zur agitatorischen Mitarbeit an den bevorstehenden Reichstagswahlen aufgefordert wurden, natürlich zugunsten der Sozialdemokratie, da diese für vollkommene soziale und politische Gleichberechtigung der Frauen einträte. Jn einer öffentlichen Versammlung aus bürgerlichen Kreisen wurde die Forderung des Frauenstimmrechts zuerst in Deutschland erhoben am 2. Dezember 1894 in Berlin. Frau Lily von Gyzicki, jetzt die Jhnen allen bekannte Lily Braun, sprach sie aus in ihrem Referat: „Die Bürgerpflicht der Frau“. Die Versammlungsleiterin war Frau Minna Cauer. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich gegen die Frauen, die eine derartige, schier unglaublich radikale Forderung in einer öffentlichen Versammlung auszusprechen wagten! So war selbst Hedwig Dohm nicht angegriffen worden, die in zahlreichen Streitschriften diese Frage jahrelang behandelt hatte. Aber die Jdee war lebenskräftig, kein Entrüstungssturmwind konnte sie hinwegfegen. Jm folgenden Jahr, 1895, zwang Bebel durch seinen Antrag auf Einführung des Reichstagswahlrechts für die Frauen

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Anna Pfundt: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2014-07-16T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2014-07-16T11:00:00Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kirchhoff_frauenstimmrecht_1912/4>, abgerufen am 26.04.2024.