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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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linken griff, stieg ihr ganz ernstlich der Gedanke an Selbstmord auf. Soll man leben müssen, wenn das unser Schicksal bis ins Alter sein soll: Anhören falscher Töne und weiter nichts! so murmelte sie auf dem Heimweg.

Und Selvar? Er läugnete sich nicht, daß er einen Fehler gemacht, indem er einem kleinstädtisch erzogenen Mädchen dieselbe Leichtigkeit, mit seiner Liebe fertig zu werden, zugetraut hatte, als etwa der französischen Gesandtin. Doch wie tief der Pfeil gedrungen, dafür hatte er trotz der Fülle seiner Liebeserfahrungen keinen Maßstab. Er meinte, sobald er selbst die Schranken wiedergefunden, auch sie wieder durch ein beschwichtigendes, stets ruhiges Entgegentreten in das Geleise kindlicher Empfindung zu bannen. Daß der alte Meister hier gleich dem Zauberlehrling stand, erzürnte ihn fast gegen Ida, deren langsamen, melancholischen Blick er nun am liebsten vermied.

So verging der Winter, und schon im März siedelte die gräfliche Familie nach Waldheim über. Selvar verreis'te auf einige Wochen mit seiner Tochter und deren Gemahl. Seine Schwester blieb allein auf dem Lande und überwachte die Verschönerungen, die er in Haus und Garten angeordnet hatte. Ida fühlte ihr Herz, wenn es auch still blutete, jetzt leichter, als sie fast diese ganze Zeit hindurch bei der liebenswürdigen alten Dame zubrachte, die ihr dringend gerathen hatte, sich einmal kurze Ferien zu gönnen. Diese milde Seele

linken griff, stieg ihr ganz ernstlich der Gedanke an Selbstmord auf. Soll man leben müssen, wenn das unser Schicksal bis ins Alter sein soll: Anhören falscher Töne und weiter nichts! so murmelte sie auf dem Heimweg.

Und Selvar? Er läugnete sich nicht, daß er einen Fehler gemacht, indem er einem kleinstädtisch erzogenen Mädchen dieselbe Leichtigkeit, mit seiner Liebe fertig zu werden, zugetraut hatte, als etwa der französischen Gesandtin. Doch wie tief der Pfeil gedrungen, dafür hatte er trotz der Fülle seiner Liebeserfahrungen keinen Maßstab. Er meinte, sobald er selbst die Schranken wiedergefunden, auch sie wieder durch ein beschwichtigendes, stets ruhiges Entgegentreten in das Geleise kindlicher Empfindung zu bannen. Daß der alte Meister hier gleich dem Zauberlehrling stand, erzürnte ihn fast gegen Ida, deren langsamen, melancholischen Blick er nun am liebsten vermied.

So verging der Winter, und schon im März siedelte die gräfliche Familie nach Waldheim über. Selvar verreis'te auf einige Wochen mit seiner Tochter und deren Gemahl. Seine Schwester blieb allein auf dem Lande und überwachte die Verschönerungen, die er in Haus und Garten angeordnet hatte. Ida fühlte ihr Herz, wenn es auch still blutete, jetzt leichter, als sie fast diese ganze Zeit hindurch bei der liebenswürdigen alten Dame zubrachte, die ihr dringend gerathen hatte, sich einmal kurze Ferien zu gönnen. Diese milde Seele

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/38>, abgerufen am 21.11.2024.