Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.an ihrer Seite an und unterhielt sich sehr zuvorkommend mit Ida, doch so oft ein neuer Wagen herbeirollte, gab es neues Begrüßen, Vorstellen ankommender Gäste, wobei die beiden einzigen bürgerlichen Personen am Tische nie das gedrückte Gefühl des Verlassenseins los wurden. Die Dame des Hauses hatte zwar Tact genug, sich in jedem freien Moment zu ihnen hinzuwenden und ein Gespräch anzuknüpfen, doch konnte sie nicht füglich die Rücksicht, die sie einem großen Kreise schuldig war, aus zwei Personen allein concentriren. Die Andern waren zu egoistisch, um sich einen Augenblick in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen. Man schwatzte mit den Bekannten und beachtete die Verlegenheit der beiden Fremden nicht, die, nachdem sie sich eine kleine halbe Stunde lang leise unter sich von der schönen Natur unterhalten hatten, die günstige Minute erhaschten, um sich zu empfehlen. Draußen athmete Ida schwer auf und wollte eben gegen ihre Beschützerin das Gelöbniß aussprechen, nie wieder diese schwüle Atmosphäre zu besuchen, als ein Mann, den sie für den Obergärtner hielt, rasch vor ihnen hin über eine Brücke schritt, ohne sie zu sehen. Er war sehr lustig in hellgrauen Stoff gekleidet und trug einen großen Strohhut tief in die Stirne gedrückt. Welch ein merkwürdig schönes Gesicht ist das! sagte Ida. Ich dachte, solche gäb' es nur im Antiken-Museum, nicht in der Wirklichkeit. Ei, das ist ja der Graf, lachte Frau Werl; nun, an ihrer Seite an und unterhielt sich sehr zuvorkommend mit Ida, doch so oft ein neuer Wagen herbeirollte, gab es neues Begrüßen, Vorstellen ankommender Gäste, wobei die beiden einzigen bürgerlichen Personen am Tische nie das gedrückte Gefühl des Verlassenseins los wurden. Die Dame des Hauses hatte zwar Tact genug, sich in jedem freien Moment zu ihnen hinzuwenden und ein Gespräch anzuknüpfen, doch konnte sie nicht füglich die Rücksicht, die sie einem großen Kreise schuldig war, aus zwei Personen allein concentriren. Die Andern waren zu egoistisch, um sich einen Augenblick in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen. Man schwatzte mit den Bekannten und beachtete die Verlegenheit der beiden Fremden nicht, die, nachdem sie sich eine kleine halbe Stunde lang leise unter sich von der schönen Natur unterhalten hatten, die günstige Minute erhaschten, um sich zu empfehlen. Draußen athmete Ida schwer auf und wollte eben gegen ihre Beschützerin das Gelöbniß aussprechen, nie wieder diese schwüle Atmosphäre zu besuchen, als ein Mann, den sie für den Obergärtner hielt, rasch vor ihnen hin über eine Brücke schritt, ohne sie zu sehen. Er war sehr lustig in hellgrauen Stoff gekleidet und trug einen großen Strohhut tief in die Stirne gedrückt. Welch ein merkwürdig schönes Gesicht ist das! sagte Ida. Ich dachte, solche gäb' es nur im Antiken-Museum, nicht in der Wirklichkeit. Ei, das ist ja der Graf, lachte Frau Werl; nun, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012"/> an ihrer Seite an und unterhielt sich sehr zuvorkommend mit Ida, doch so oft ein neuer Wagen herbeirollte, gab es neues Begrüßen, Vorstellen ankommender Gäste, wobei die beiden einzigen bürgerlichen Personen am Tische nie das gedrückte Gefühl des Verlassenseins los wurden. Die Dame des Hauses hatte zwar Tact genug, sich in jedem freien Moment zu ihnen hinzuwenden und ein Gespräch anzuknüpfen, doch konnte sie nicht füglich die Rücksicht, die sie einem großen Kreise schuldig war, aus zwei Personen allein concentriren. Die Andern waren zu egoistisch, um sich einen Augenblick in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen. Man schwatzte mit den Bekannten und beachtete die Verlegenheit der beiden Fremden nicht, die, nachdem sie sich eine kleine halbe Stunde lang leise unter sich von der schönen Natur unterhalten hatten, die günstige Minute erhaschten, um sich zu empfehlen.</p><lb/> <p>Draußen athmete Ida schwer auf und wollte eben gegen ihre Beschützerin das Gelöbniß aussprechen, nie wieder diese schwüle Atmosphäre zu besuchen, als ein Mann, den sie für den Obergärtner hielt, rasch vor ihnen hin über eine Brücke schritt, ohne sie zu sehen. Er war sehr lustig in hellgrauen Stoff gekleidet und trug einen großen Strohhut tief in die Stirne gedrückt.</p><lb/> <p>Welch ein merkwürdig schönes Gesicht ist das! sagte Ida. Ich dachte, solche gäb' es nur im Antiken-Museum, nicht in der Wirklichkeit.</p><lb/> <p>Ei, das ist ja der Graf, lachte Frau Werl; nun,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
an ihrer Seite an und unterhielt sich sehr zuvorkommend mit Ida, doch so oft ein neuer Wagen herbeirollte, gab es neues Begrüßen, Vorstellen ankommender Gäste, wobei die beiden einzigen bürgerlichen Personen am Tische nie das gedrückte Gefühl des Verlassenseins los wurden. Die Dame des Hauses hatte zwar Tact genug, sich in jedem freien Moment zu ihnen hinzuwenden und ein Gespräch anzuknüpfen, doch konnte sie nicht füglich die Rücksicht, die sie einem großen Kreise schuldig war, aus zwei Personen allein concentriren. Die Andern waren zu egoistisch, um sich einen Augenblick in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen. Man schwatzte mit den Bekannten und beachtete die Verlegenheit der beiden Fremden nicht, die, nachdem sie sich eine kleine halbe Stunde lang leise unter sich von der schönen Natur unterhalten hatten, die günstige Minute erhaschten, um sich zu empfehlen.
Draußen athmete Ida schwer auf und wollte eben gegen ihre Beschützerin das Gelöbniß aussprechen, nie wieder diese schwüle Atmosphäre zu besuchen, als ein Mann, den sie für den Obergärtner hielt, rasch vor ihnen hin über eine Brücke schritt, ohne sie zu sehen. Er war sehr lustig in hellgrauen Stoff gekleidet und trug einen großen Strohhut tief in die Stirne gedrückt.
Welch ein merkwürdig schönes Gesicht ist das! sagte Ida. Ich dachte, solche gäb' es nur im Antiken-Museum, nicht in der Wirklichkeit.
Ei, das ist ja der Graf, lachte Frau Werl; nun,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/12 |
Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/12>, abgerufen am 27.07.2024. |