Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.auf ihrer Stirne lesen, und erwartete vom Vater heftigen Tadel, der aber war weich, wie man ihn selten sah, bot ihr die Hand und sagte: Ich habe es schon gestern Abend von den jungen Gesellen gehört, du bist Braut und hast, das muß ich sagen, einen wackern Burschen mitgekriegt. Sieh, Margret, das freut mich, denn nun hab' ich auch dich versorgt, mein letztes Kind - und mein liebstes, setzte er leise hinzu, nun es mit mir auch einmal zu Ende geht. Weinend über die Güte des Vaters stürzte Margret an seine Brust und suchte ihm die Todesgedanken auszureden. Nein, sagte der Alte, laß das; mein Lebtage bin ich gesund gewesen, und die starken Bäume brechen am ersten; so wie heut war mir's noch nie zu Muth. Nach neun Tagen kniete Margret am Sarg des Vaters; er war an einem hitzigen Fieber verschieden. Neben ihr ging Nikola zum Kirchhof, da er sich nun als zur Familie gehörig ansah. Die beiden Brautleute beschlossen nach der Sitte ein Jahr zu warten, und kamen von jetzt an, da Margret ohnehin wegen ihrer Trauer keinen Tanz besuchte, nur noch in andrer Leute Gesellschaft zusammen, wo sie denn ganz unverholen sich als Braut und Bräutigam küßten und vertraulich unter einander plauderten. Bei der Freiheit, die auf dem Lande im Verkehr der jungen Leute herrscht, dachte über jenen nächtlichen Heimgang aus dem Schützenzelt keine Seele etwas Arges. Margret selbst glaubte ihr auf ihrer Stirne lesen, und erwartete vom Vater heftigen Tadel, der aber war weich, wie man ihn selten sah, bot ihr die Hand und sagte: Ich habe es schon gestern Abend von den jungen Gesellen gehört, du bist Braut und hast, das muß ich sagen, einen wackern Burschen mitgekriegt. Sieh, Margret, das freut mich, denn nun hab' ich auch dich versorgt, mein letztes Kind - und mein liebstes, setzte er leise hinzu, nun es mit mir auch einmal zu Ende geht. Weinend über die Güte des Vaters stürzte Margret an seine Brust und suchte ihm die Todesgedanken auszureden. Nein, sagte der Alte, laß das; mein Lebtage bin ich gesund gewesen, und die starken Bäume brechen am ersten; so wie heut war mir's noch nie zu Muth. Nach neun Tagen kniete Margret am Sarg des Vaters; er war an einem hitzigen Fieber verschieden. Neben ihr ging Nikola zum Kirchhof, da er sich nun als zur Familie gehörig ansah. Die beiden Brautleute beschlossen nach der Sitte ein Jahr zu warten, und kamen von jetzt an, da Margret ohnehin wegen ihrer Trauer keinen Tanz besuchte, nur noch in andrer Leute Gesellschaft zusammen, wo sie denn ganz unverholen sich als Braut und Bräutigam küßten und vertraulich unter einander plauderten. Bei der Freiheit, die auf dem Lande im Verkehr der jungen Leute herrscht, dachte über jenen nächtlichen Heimgang aus dem Schützenzelt keine Seele etwas Arges. Margret selbst glaubte ihr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0029"/> auf ihrer Stirne lesen, und erwartete vom Vater heftigen Tadel, der aber war weich, wie man ihn selten sah, bot ihr die Hand und sagte: Ich habe es schon gestern Abend von den jungen Gesellen gehört, du bist Braut und hast, das muß ich sagen, einen wackern Burschen mitgekriegt. Sieh, Margret, das freut mich, denn nun hab' ich auch dich versorgt, mein letztes Kind - und mein liebstes, setzte er leise hinzu, nun es mit mir auch einmal zu Ende geht.</p><lb/> <p>Weinend über die Güte des Vaters stürzte Margret an seine Brust und suchte ihm die Todesgedanken auszureden. Nein, sagte der Alte, laß das; mein Lebtage bin ich gesund gewesen, und die starken Bäume brechen am ersten; so wie heut war mir's noch nie zu Muth.</p><lb/> <p>Nach neun Tagen kniete Margret am Sarg des Vaters; er war an einem hitzigen Fieber verschieden. Neben ihr ging Nikola zum Kirchhof, da er sich nun als zur Familie gehörig ansah. Die beiden Brautleute beschlossen nach der Sitte ein Jahr zu warten, und kamen von jetzt an, da Margret ohnehin wegen ihrer Trauer keinen Tanz besuchte, nur noch in andrer Leute Gesellschaft zusammen, wo sie denn ganz unverholen sich als Braut und Bräutigam küßten und vertraulich unter einander plauderten. Bei der Freiheit, die auf dem Lande im Verkehr der jungen Leute herrscht, dachte über jenen nächtlichen Heimgang aus dem Schützenzelt keine Seele etwas Arges. Margret selbst glaubte ihr<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
auf ihrer Stirne lesen, und erwartete vom Vater heftigen Tadel, der aber war weich, wie man ihn selten sah, bot ihr die Hand und sagte: Ich habe es schon gestern Abend von den jungen Gesellen gehört, du bist Braut und hast, das muß ich sagen, einen wackern Burschen mitgekriegt. Sieh, Margret, das freut mich, denn nun hab' ich auch dich versorgt, mein letztes Kind - und mein liebstes, setzte er leise hinzu, nun es mit mir auch einmal zu Ende geht.
Weinend über die Güte des Vaters stürzte Margret an seine Brust und suchte ihm die Todesgedanken auszureden. Nein, sagte der Alte, laß das; mein Lebtage bin ich gesund gewesen, und die starken Bäume brechen am ersten; so wie heut war mir's noch nie zu Muth.
Nach neun Tagen kniete Margret am Sarg des Vaters; er war an einem hitzigen Fieber verschieden. Neben ihr ging Nikola zum Kirchhof, da er sich nun als zur Familie gehörig ansah. Die beiden Brautleute beschlossen nach der Sitte ein Jahr zu warten, und kamen von jetzt an, da Margret ohnehin wegen ihrer Trauer keinen Tanz besuchte, nur noch in andrer Leute Gesellschaft zusammen, wo sie denn ganz unverholen sich als Braut und Bräutigam küßten und vertraulich unter einander plauderten. Bei der Freiheit, die auf dem Lande im Verkehr der jungen Leute herrscht, dachte über jenen nächtlichen Heimgang aus dem Schützenzelt keine Seele etwas Arges. Margret selbst glaubte ihr
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/29 |
Zitationshilfe: | Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/29>, abgerufen am 28.07.2024. |