Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

von Keyserling, Eduard: Beate und Mareile. Eine Schloßgeschichte. Berlin, [1909].

Bild:
<< vorherige Seite

dann ging sie zu Günther hinüber, beugte sich auf ihn nieder, drückte ihren Mund auf seine Lippen, wie ein heißes Siegel, und Günther, bleich vor Erregung, schloß die Augen, lag da, begraben unter diesem warmen, fiebernden Frauenleibe.

Und welch ein Glück war es, nach solch einer Liebesstunde dazuliegen, satt und müde, und zuzusehen, wie Mareile durch die Rosadämmerung des Raumes hin und her ging, den Vorhang ein wenig von dem Fenster zog, um das schwere, goldene Nachmittagslicht hereinzulassen.

"Ihr Frauen," sagte Günther langsam, "Ihr seid nicht auszudenken."

"Ihr Frauen!" wiederholte Mareile, "das gibt's nicht. Jede Frau ist für sich da und kommt so nicht wieder. Wie die Wolken, weißt du. Eine Wolke ist auch nur so für den da, der sie gerade sieht. Also, wozu nachdenken!" Sie lächelte dabei, die Arme hoch in den Sonnenschein emporhebend.

"Ja, ja," meinte Günther behaglich, "über sich hingehen lassen, eine Welle, eine blanke, warme Welle," wiederholte er und ließ die Worte klingen.

Mareile streckte sich jetzt in dem alten Sessel mit den goldenen Beinen aus. Die Füße legte sie auf den verblichenen roten Schemel. Günther liebte diese schmalen Füßchen mit den geschweiften Sohlen; sie waren lebendig und ausdrucksvoll, wie Füße der Dorfkinder, die an Freiheit gewohnt, mit den langen Zehen geschickt nach den Kieseln im Bache fassen. Um die Fußgelenke und um die Arme trug Mareile glatte, goldene Reife. Günther hatte sie ihr gegeben. Auf jedem Reif stand der Vers des Hohen Liedes: "Du bist schön,

dann ging sie zu Günther hinüber, beugte sich auf ihn nieder, drückte ihren Mund auf seine Lippen, wie ein heißes Siegel, und Günther, bleich vor Erregung, schloß die Augen, lag da, begraben unter diesem warmen, fiebernden Frauenleibe.

Und welch ein Glück war es, nach solch einer Liebesstunde dazuliegen, satt und müde, und zuzusehen, wie Mareile durch die Rosadämmerung des Raumes hin und her ging, den Vorhang ein wenig von dem Fenster zog, um das schwere, goldene Nachmittagslicht hereinzulassen.

„Ihr Frauen,“ sagte Günther langsam, „Ihr seid nicht auszudenken.“

„Ihr Frauen!“ wiederholte Mareile, „das gibt’s nicht. Jede Frau ist für sich da und kommt so nicht wieder. Wie die Wolken, weißt du. Eine Wolke ist auch nur so für den da, der sie gerade sieht. Also, wozu nachdenken!“ Sie lächelte dabei, die Arme hoch in den Sonnenschein emporhebend.

„Ja, ja,“ meinte Günther behaglich, „über sich hingehen lassen, eine Welle, eine blanke, warme Welle,“ wiederholte er und ließ die Worte klingen.

Mareile streckte sich jetzt in dem alten Sessel mit den goldenen Beinen aus. Die Füße legte sie auf den verblichenen roten Schemel. Günther liebte diese schmalen Füßchen mit den geschweiften Sohlen; sie waren lebendig und ausdrucksvoll, wie Füße der Dorfkinder, die an Freiheit gewohnt, mit den langen Zehen geschickt nach den Kieseln im Bache fassen. Um die Fußgelenke und um die Arme trug Mareile glatte, goldene Reife. Günther hatte sie ihr gegeben. Auf jedem Reif stand der Vers des Hohen Liedes: „Du bist schön,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0104" n="102"/>
dann ging sie zu Günther hinüber, beugte sich auf ihn nieder, drückte ihren Mund auf seine Lippen, wie ein heißes Siegel, und Günther, bleich vor Erregung, schloß die Augen, lag da, begraben unter diesem warmen, fiebernden Frauenleibe.</p>
        <p>Und welch ein Glück war es, nach solch einer Liebesstunde dazuliegen, satt und müde, und zuzusehen, wie Mareile durch die Rosadämmerung des Raumes hin und her ging, den Vorhang ein wenig von dem Fenster zog, um das schwere, goldene Nachmittagslicht hereinzulassen.</p>
        <p>&#x201E;Ihr Frauen,&#x201C; sagte Günther langsam, &#x201E;Ihr seid nicht auszudenken.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Ihr Frauen!&#x201C; wiederholte Mareile, &#x201E;das gibt&#x2019;s nicht. Jede Frau ist für sich da und kommt so nicht wieder. Wie die Wolken, weißt du. Eine Wolke ist auch nur so für den da, der sie gerade sieht. Also, wozu nachdenken!&#x201C; Sie lächelte dabei, die Arme hoch in den Sonnenschein emporhebend.</p>
        <p>&#x201E;Ja, ja,&#x201C; meinte Günther behaglich, &#x201E;über sich hingehen lassen, eine Welle, eine blanke, warme Welle,&#x201C; wiederholte er und ließ die Worte klingen.</p>
        <p>Mareile streckte sich jetzt in dem alten Sessel mit den goldenen Beinen aus. Die Füße legte sie auf den verblichenen roten Schemel. Günther liebte diese schmalen Füßchen mit den geschweiften Sohlen; sie waren lebendig und ausdrucksvoll, wie Füße der Dorfkinder, die an Freiheit gewohnt, mit den langen Zehen geschickt nach den Kieseln im Bache fassen. Um die Fußgelenke und um die Arme trug Mareile glatte, goldene Reife. Günther hatte sie ihr gegeben. Auf jedem Reif stand der Vers des Hohen Liedes: &#x201E;Du bist schön,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0104] dann ging sie zu Günther hinüber, beugte sich auf ihn nieder, drückte ihren Mund auf seine Lippen, wie ein heißes Siegel, und Günther, bleich vor Erregung, schloß die Augen, lag da, begraben unter diesem warmen, fiebernden Frauenleibe. Und welch ein Glück war es, nach solch einer Liebesstunde dazuliegen, satt und müde, und zuzusehen, wie Mareile durch die Rosadämmerung des Raumes hin und her ging, den Vorhang ein wenig von dem Fenster zog, um das schwere, goldene Nachmittagslicht hereinzulassen. „Ihr Frauen,“ sagte Günther langsam, „Ihr seid nicht auszudenken.“ „Ihr Frauen!“ wiederholte Mareile, „das gibt’s nicht. Jede Frau ist für sich da und kommt so nicht wieder. Wie die Wolken, weißt du. Eine Wolke ist auch nur so für den da, der sie gerade sieht. Also, wozu nachdenken!“ Sie lächelte dabei, die Arme hoch in den Sonnenschein emporhebend. „Ja, ja,“ meinte Günther behaglich, „über sich hingehen lassen, eine Welle, eine blanke, warme Welle,“ wiederholte er und ließ die Worte klingen. Mareile streckte sich jetzt in dem alten Sessel mit den goldenen Beinen aus. Die Füße legte sie auf den verblichenen roten Schemel. Günther liebte diese schmalen Füßchen mit den geschweiften Sohlen; sie waren lebendig und ausdrucksvoll, wie Füße der Dorfkinder, die an Freiheit gewohnt, mit den langen Zehen geschickt nach den Kieseln im Bache fassen. Um die Fußgelenke und um die Arme trug Mareile glatte, goldene Reife. Günther hatte sie ihr gegeben. Auf jedem Reif stand der Vers des Hohen Liedes: „Du bist schön,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Eduard von Keyserlings „Beate und Mareile“ erschi… [mehr]

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keyserling_beatemareile_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keyserling_beatemareile_1903/104
Zitationshilfe: von Keyserling, Eduard: Beate und Mareile. Eine Schloßgeschichte. Berlin, [1909], S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keyserling_beatemareile_1903/104>, abgerufen am 25.11.2024.