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Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.

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Steht gelehnt an einen Felsen,
Unter Laub und Rebenblüthe
Dort ein kleines Haus verborgen,
Steh' ich vor dem kleinen Haus.
Kommt vom Bache, Kräuter tragend,
Dort ein liebes, junges Wesen,
Bist du es -- die Meine längst.
Ist kein Lauscher mehr zu fürchten,
Drück' ich dich, du süßes Wesen!
An ein treues Herz voll Liebe,
Offen vor des Himmels Aug'.
Aber weh! o wehe Mädchen!
Siehst du dort nicht jenen Raben?
Aechzend fliegt er durch den Himmel,
Und verlöscht mit schwarzem Fittig
Mein Gemälde, weh! o weh!

4.
Bin ich wie ein Kind, das seine Mutter
Erst verloren, weinend in der Nacht steht:
Sieh! so bin ich seit ich fern gezogen.
Stund im Traum' ich heut' auf unsrem Berge,
Blick' ich in das tiefe Thal hernieder.
Such' dein Haus ich, aber find' es nimmer.
Steht gelehnt an einen Felſen,
Unter Laub und Rebenbluͤthe
Dort ein kleines Haus verborgen,
Steh' ich vor dem kleinen Haus.
Kommt vom Bache, Kraͤuter tragend,
Dort ein liebes, junges Weſen,
Biſt du es — die Meine laͤngſt.
Iſt kein Lauſcher mehr zu fuͤrchten,
Druͤck' ich dich, du ſuͤßes Weſen!
An ein treues Herz voll Liebe,
Offen vor des Himmels Aug'.
Aber weh! o wehe Maͤdchen!
Siehſt du dort nicht jenen Raben?
Aechzend fliegt er durch den Himmel,
Und verloͤſcht mit ſchwarzem Fittig
Mein Gemaͤlde, weh! o weh!

4.
Bin ich wie ein Kind, das ſeine Mutter
Erſt verloren, weinend in der Nacht ſteht:
Sieh! ſo bin ich ſeit ich fern gezogen.
Stund im Traum' ich heut' auf unſrem Berge,
Blick' ich in das tiefe Thal hernieder.
Such' dein Haus ich, aber find' es nimmer.
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[192/0204] Steht gelehnt an einen Felſen, Unter Laub und Rebenbluͤthe Dort ein kleines Haus verborgen, Steh' ich vor dem kleinen Haus. Kommt vom Bache, Kraͤuter tragend, Dort ein liebes, junges Weſen, Biſt du es — die Meine laͤngſt. Iſt kein Lauſcher mehr zu fuͤrchten, Druͤck' ich dich, du ſuͤßes Weſen! An ein treues Herz voll Liebe, Offen vor des Himmels Aug'. Aber weh! o wehe Maͤdchen! Siehſt du dort nicht jenen Raben? Aechzend fliegt er durch den Himmel, Und verloͤſcht mit ſchwarzem Fittig Mein Gemaͤlde, weh! o weh! 4. Bin ich wie ein Kind, das ſeine Mutter Erſt verloren, weinend in der Nacht ſteht: Sieh! ſo bin ich ſeit ich fern gezogen. Stund im Traum' ich heut' auf unſrem Berge, Blick' ich in das tiefe Thal hernieder. Such' dein Haus ich, aber find' es nimmer.

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_gedichte_1826/204>, abgerufen am 05.05.2024.