wurde, sie in solchen Anfällen immer nur um sich schlug. Erst nach vier Monaten sprach es nun auf einmal aus ihr und zwar das erstemal zu ihrem Bruder in der Nacht: "Weist du wer ich bin?" Er sagte: "Nein." Hierauf er- wiederte die Stimme: "Erinnerst du dich noch, wem du als Knabe einmal Zuckerbirnen gestohlen hast?" Der Bru- der antwortete: "Niemand als dem verstorbenen X." Hierauf sagte die Stimme: "Nun so sage ich dir, der bin ich!"
Als die Frau wieder zu sich kam, wußte sie nichts von dieser Rede, wußte auch wachend nichts davon, daß ihr Bruder einmal als Knabe Birnen dem verstorbenen X. ge- stohlen.
Von da an sprach nun immer in jenen Anfällen die Stimme des verstorbenen X. aus dieser Frau heraus, es hatte sich ihrer jedesmal durchaus die Persönlichkeit jenes X. bemäch- tigt und die ihrige war wie völlig aus ihr weggegangen. Er tobte, fluchte, und schlug auf's fürchterlichste aus ihr, besonders stieß er Verwünschungen gegen Gott und alles Heilige aus. Man brauchte von verschiedenen Aerzten Mit- tel gegen ihr Leiden, aber alle blieben durchaus fruchtlos. Nur durch Gebet und magisches Einwirken wurde der Dä- mon einmal acht Wochen lang in ihr ruhig, tobte aber, nachdem sie zum Nachtmahl gegangen war, auf einmal wieder auf's heftigste mit Fluchen und Schimpfen und dieß ein Jahr lang, während welcher Zeit sie schwanger wurde, was aber nicht die mindeste Aenderung in ihren Zustand brachte, wie auch nie ein körperliches Mittel, eine körper- liche Arzeney, auf sie von irgend einer Wirkung war, einzig nur geistige Mittel, wie z. B. Gebet. Man hatte ihr gerathen, in die katholische Kirche nach W. zu gehen, wo ein Geistlicher ihr durch Exorcismus helfen könne. Man führte sie mit Mühe auf einem Wagen dahin, wobey ihr der Dämon, um es zu verhindern, die furchtbarsten Qualen schuf, lästernd aus ihr schrie und sie in Krämpfen von dem Wagen oft in die Höhe warf, daß man ihre Nie- derkunft alle Augenblicke befürchtete. Zu W. endlich ange-
wurde, ſie in ſolchen Anfällen immer nur um ſich ſchlug. Erſt nach vier Monaten ſprach es nun auf einmal aus ihr und zwar das erſtemal zu ihrem Bruder in der Nacht: „Weiſt du wer ich bin?“ Er ſagte: „Nein.“ Hierauf er- wiederte die Stimme: „Erinnerſt du dich noch, wem du als Knabe einmal Zuckerbirnen geſtohlen haſt?“ Der Bru- der antwortete: „Niemand als dem verſtorbenen X.“ Hierauf ſagte die Stimme: „Nun ſo ſage ich dir, der bin ich!“
Als die Frau wieder zu ſich kam, wußte ſie nichts von dieſer Rede, wußte auch wachend nichts davon, daß ihr Bruder einmal als Knabe Birnen dem verſtorbenen X. ge- ſtohlen.
Von da an ſprach nun immer in jenen Anfällen die Stimme des verſtorbenen X. aus dieſer Frau heraus, es hatte ſich ihrer jedesmal durchaus die Perſönlichkeit jenes X. bemäch- tigt und die ihrige war wie völlig aus ihr weggegangen. Er tobte, fluchte, und ſchlug auf’s fürchterlichſte aus ihr, beſonders ſtieß er Verwünſchungen gegen Gott und alles Heilige aus. Man brauchte von verſchiedenen Aerzten Mit- tel gegen ihr Leiden, aber alle blieben durchaus fruchtlos. Nur durch Gebet und magiſches Einwirken wurde der Dä- mon einmal acht Wochen lang in ihr ruhig, tobte aber, nachdem ſie zum Nachtmahl gegangen war, auf einmal wieder auf’s heftigſte mit Fluchen und Schimpfen und dieß ein Jahr lang, während welcher Zeit ſie ſchwanger wurde, was aber nicht die mindeſte Aenderung in ihren Zuſtand brachte, wie auch nie ein körperliches Mittel, eine körper- liche Arzeney, auf ſie von irgend einer Wirkung war, einzig nur geiſtige Mittel, wie z. B. Gebet. Man hatte ihr gerathen, in die katholiſche Kirche nach W. zu gehen, wo ein Geiſtlicher ihr durch Exorcismus helfen könne. Man führte ſie mit Mühe auf einem Wagen dahin, wobey ihr der Dämon, um es zu verhindern, die furchtbarſten Qualen ſchuf, läſternd aus ihr ſchrie und ſie in Krämpfen von dem Wagen oft in die Höhe warf, daß man ihre Nie- derkunft alle Augenblicke befürchtete. Zu W. endlich ange-
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wurde, ſie in ſolchen Anfällen immer nur um ſich ſchlug.
Erſt nach vier Monaten ſprach es nun auf einmal aus ihr
und zwar das erſtemal zu ihrem Bruder in der Nacht:
„Weiſt du wer ich bin?“ Er ſagte: „Nein.“ Hierauf er-
wiederte die Stimme: „Erinnerſt du dich noch, wem du
als Knabe einmal Zuckerbirnen geſtohlen haſt?“ Der Bru-
der antwortete: „Niemand als dem verſtorbenen X.“ Hierauf
ſagte die Stimme: „Nun ſo ſage ich dir, der bin ich!“
Als die Frau wieder zu ſich kam, wußte ſie nichts von
dieſer Rede, wußte auch wachend nichts davon, daß ihr
Bruder einmal als Knabe Birnen dem verſtorbenen X. ge-
ſtohlen.
Von da an ſprach nun immer in jenen Anfällen die Stimme
des verſtorbenen X. aus dieſer Frau heraus, es hatte ſich
ihrer jedesmal durchaus die Perſönlichkeit jenes X. bemäch-
tigt und die ihrige war wie völlig aus ihr weggegangen.
Er tobte, fluchte, und ſchlug auf’s fürchterlichſte aus ihr,
beſonders ſtieß er Verwünſchungen gegen Gott und alles
Heilige aus. Man brauchte von verſchiedenen Aerzten Mit-
tel gegen ihr Leiden, aber alle blieben durchaus fruchtlos.
Nur durch Gebet und magiſches Einwirken wurde der Dä-
mon einmal acht Wochen lang in ihr ruhig, tobte aber,
nachdem ſie zum Nachtmahl gegangen war, auf einmal
wieder auf’s heftigſte mit Fluchen und Schimpfen und dieß
ein Jahr lang, während welcher Zeit ſie ſchwanger wurde,
was aber nicht die mindeſte Aenderung in ihren Zuſtand
brachte, wie auch nie ein körperliches Mittel, eine körper-
liche Arzeney, auf ſie von irgend einer Wirkung war,
einzig nur geiſtige Mittel, wie z. B. Gebet. Man hatte
ihr gerathen, in die katholiſche Kirche nach W. zu gehen,
wo ein Geiſtlicher ihr durch Exorcismus helfen könne.
Man führte ſie mit Mühe auf einem Wagen dahin, wobey
ihr der Dämon, um es zu verhindern, die furchtbarſten
Qualen ſchuf, läſternd aus ihr ſchrie und ſie in Krämpfen
von dem Wagen oft in die Höhe warf, daß man ihre Nie-
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/88>, abgerufen am 06.07.2024.
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