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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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erworbenen Schätze der Wissenschaft und Erfahrung nicht
rauben lassen."

Der Freund: "Keineswegs wollen wir das; aber jene
Eröffnungen, jene "Aufschlüsse" gehören auch, wenn ir-
gend etwas, zu den Schätzen der Wissenschaft und Er-
fahrung."

Der Denkgläubige sagt: "Es gibt keine Art von Aber-
glauben, keine Albernheit, kein Ammenmährchen, welches
nicht in diesem System seine Sanktion findet."

Der Freund: "In welchem System? Was die Geister
und Somnambülen sagen, ist an sich kein System, denn
sie widersprechen auch zuweilen einander, ja sogar sich selbst.
Was man aus diesen Erscheinungen hat schließen wollen,
ist zu unbestimmt, als daß es ein System heißen könnte.
Wie viel wird nicht alle Tage falsch geschlossen? Baculus
stat in angulo etc.
ist kein System. Uebrigens gibt es,
je nach dem System der Urtheiler, Aberglauben, Albern-
heiten und Ammenmährchen, die es nicht sind."

Der Denkgläubige sagt: "Könnten wir denn diese uner-
klärlichen Erscheinungen aus der Geisterwelt nicht eben so
auf sich beruhen lassen, wie wir alle jene Räthsel auf sich
beruhen lassen müssen?"

Der Freund erwiedert: "Ja, das soll Jeder, der diese
unerklärlichen Erscheinungen nicht zu benutzen weiß, nicht
zu sichten versteht, und nicht fortzuschreiten begehrt.
Es muß aber andern unverboten seyn, in den Räthseln der
Natur, des Menschenlebens und der Erscheinungen aus der
Geisterwelt zu forschen und etwas daraus zu lernen; denn
Gott zeigt uns nichts umsonst. Wir sollen keine faulen
Schüler seyn, die das aufgeschlagene Buch liegen lassen
und Aepfel schmausen, dazu sind wir nicht hier."

Der Denkgläubige sagt: "Es ist ein wahrhaft wohlthuen-
der, beruhigender Gedanke, daß der weiseste der Weisen,
der die Tiefen der Gottheit durchschaute und aus dem Reiche
des Todes zurückkehrte, uns nichts von solchen Sonderbar-

erworbenen Schätze der Wiſſenſchaft und Erfahrung nicht
rauben laſſen.“

Der Freund: „Keineswegs wollen wir das; aber jene
Eröffnungen, jene „Aufſchlüſſe“ gehören auch, wenn ir-
gend etwas, zu den Schätzen der Wiſſenſchaft und Er-
fahrung.“

Der Denkgläubige ſagt: „Es gibt keine Art von Aber-
glauben, keine Albernheit, kein Ammenmährchen, welches
nicht in dieſem Syſtem ſeine Sanktion findet.“

Der Freund: „In welchem Syſtem? Was die Geiſter
und Somnambülen ſagen, iſt an ſich kein Syſtem, denn
ſie widerſprechen auch zuweilen einander, ja ſogar ſich ſelbſt.
Was man aus dieſen Erſcheinungen hat ſchließen wollen,
iſt zu unbeſtimmt, als daß es ein Syſtem heißen könnte.
Wie viel wird nicht alle Tage falſch geſchloſſen? Baculus
stat in angulo etc.
iſt kein Syſtem. Uebrigens gibt es,
je nach dem Syſtem der Urtheiler, Aberglauben, Albern-
heiten und Ammenmährchen, die es nicht ſind.“

Der Denkgläubige ſagt: „Könnten wir denn dieſe uner-
klärlichen Erſcheinungen aus der Geiſterwelt nicht eben ſo
auf ſich beruhen laſſen, wie wir alle jene Räthſel auf ſich
beruhen laſſen müſſen?“

Der Freund erwiedert: „Ja, das ſoll Jeder, der dieſe
unerklärlichen Erſcheinungen nicht zu benutzen weiß, nicht
zu ſichten verſteht, und nicht fortzuſchreiten begehrt.
Es muß aber andern unverboten ſeyn, in den Räthſeln der
Natur, des Menſchenlebens und der Erſcheinungen aus der
Geiſterwelt zu forſchen und etwas daraus zu lernen; denn
Gott zeigt uns nichts umſonſt. Wir ſollen keine faulen
Schüler ſeyn, die das aufgeſchlagene Buch liegen laſſen
und Aepfel ſchmauſen, dazu ſind wir nicht hier.“

Der Denkgläubige ſagt: „Es iſt ein wahrhaft wohlthuen-
der, beruhigender Gedanke, daß der weiſeſte der Weiſen,
der die Tiefen der Gottheit durchſchaute und aus dem Reiche
des Todes zurückkehrte, uns nichts von ſolchen Sonderbar-

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[56/0070] erworbenen Schätze der Wiſſenſchaft und Erfahrung nicht rauben laſſen.“ Der Freund: „Keineswegs wollen wir das; aber jene Eröffnungen, jene „Aufſchlüſſe“ gehören auch, wenn ir- gend etwas, zu den Schätzen der Wiſſenſchaft und Er- fahrung.“ Der Denkgläubige ſagt: „Es gibt keine Art von Aber- glauben, keine Albernheit, kein Ammenmährchen, welches nicht in dieſem Syſtem ſeine Sanktion findet.“ Der Freund: „In welchem Syſtem? Was die Geiſter und Somnambülen ſagen, iſt an ſich kein Syſtem, denn ſie widerſprechen auch zuweilen einander, ja ſogar ſich ſelbſt. Was man aus dieſen Erſcheinungen hat ſchließen wollen, iſt zu unbeſtimmt, als daß es ein Syſtem heißen könnte. Wie viel wird nicht alle Tage falſch geſchloſſen? Baculus stat in angulo etc. iſt kein Syſtem. Uebrigens gibt es, je nach dem Syſtem der Urtheiler, Aberglauben, Albern- heiten und Ammenmährchen, die es nicht ſind.“ Der Denkgläubige ſagt: „Könnten wir denn dieſe uner- klärlichen Erſcheinungen aus der Geiſterwelt nicht eben ſo auf ſich beruhen laſſen, wie wir alle jene Räthſel auf ſich beruhen laſſen müſſen?“ Der Freund erwiedert: „Ja, das ſoll Jeder, der dieſe unerklärlichen Erſcheinungen nicht zu benutzen weiß, nicht zu ſichten verſteht, und nicht fortzuſchreiten begehrt. Es muß aber andern unverboten ſeyn, in den Räthſeln der Natur, des Menſchenlebens und der Erſcheinungen aus der Geiſterwelt zu forſchen und etwas daraus zu lernen; denn Gott zeigt uns nichts umſonſt. Wir ſollen keine faulen Schüler ſeyn, die das aufgeſchlagene Buch liegen laſſen und Aepfel ſchmauſen, dazu ſind wir nicht hier.“ Der Denkgläubige ſagt: „Es iſt ein wahrhaft wohlthuen- der, beruhigender Gedanke, daß der weiſeſte der Weiſen, der die Tiefen der Gottheit durchſchaute und aus dem Reiche des Todes zurückkehrte, uns nichts von ſolchen Sonderbar-

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/70>, abgerufen am 27.04.2024.