Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.unter welchen sie eben so gut eine weit größere Anzahl ganz Kerner, über Besessenseyn. 4
unter welchen ſie eben ſo gut eine weit größere Anzahl ganz Kerner, über Beſeſſenſeyn. 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0063" n="49"/> unter welchen ſie eben ſo gut eine weit größere Anzahl ganz<lb/> unpaſſender hätte treffen können, gerade ſolche von ihr an-<lb/> geführt wurden, welche in einer ſchönen Beziehung zu ih-<lb/> ren Verhältniſſen oder der Lage des Geiſtes ſtehen? Wo<lb/> kommt dem Bauernmädchen dieſe Weisheit her, welche ihr<lb/> im natürlichen Zuſtand ganz fremd iſt? Am wunderbarſten<lb/> iſt aber die Verwechslung der Perſönlichkeit. Es iſt eigent-<lb/> lich ſchwer, einen Namen für dieſen Zuſtand zu finden.<lb/> Das Mädchen verliert das Bewußtſeyn, ihr „<hi rendition="#g">Ich</hi>“ ver-<lb/> ſchwindet oder entfernt ſich vielmehr, um einem andern<lb/> „<hi rendition="#g">Ich</hi>“ Platz zu machen. Ein anderer Geiſt ergreift nun<lb/> gleichſam Beſitz von dieſem Organismus, von dieſen Sinn-<lb/> werkzeugen, von dieſen Nerven und Muskeln, ſpricht mit<lb/> dieſer Kehle, denkt nun mit dieſen Gehirnnerven und zwar<lb/> auf eine ſo gewaltſame Weiſe, daß die Hälfte des Orga-<lb/> nismus dadurch wie gelähmt wird. Es iſt gerade, wie<lb/> wenn ein Stärkerer kommt und den Hausbeſitzer aus dem<lb/> Hauſe jagt und dann behaglich zum Fenſter hinausſchaut,<lb/> wie wenn es das <hi rendition="#g">ſeine</hi> wäre. Denn es iſt keine Bewußt-<lb/> loſigkeit, welche eintritt, ein bewußtes Ich bewohnt ohne<lb/> Unterbrechung den Körper, der Geiſt, der jetzt in ihr iſt,<lb/> weiß ſo gut — ſogar oft noch beſſer als zuvor, was um<lb/> ihn vorgeht, aber es iſt ein anderer Bewohner, der darin<lb/> haust. Und zwar iſt das Mädchen bey all’ dem nicht ver-<lb/> geſſen, er ſpricht von ihr, er weiß recht gut, daß ſie lebt,<lb/> aber er behauptet, <hi rendition="#g">ſie ſey nicht da, er ſey da</hi>. Und<lb/> Alles ſcheint es zu beſtätigen, daß nun ein ganz anderer,<lb/> roherer, gottloſer Bewohner in dieſe Behauſung eingezogen<lb/> iſt, der mit dem vorigen keine Aehnlichkeit hat. Wohl ſchwe-<lb/> ben dem Menſchen auch im Traume, in der Fieberhitze,<lb/> im Wahnſinne ſeltſame Täuſchungen vor, aber es iſt doch<lb/> immer daſſelbe Ich, das als der bleibende Grundton<lb/> unverändert bleibt, wie auch dieſes Ich ſich zum Kai-<lb/> ſer oder Bettler, zu Gott oder zum Gerſtenkorn geſtalten<lb/> mag — aber von einer ſo ſcharf abgetrennten, klar erkann-<lb/> ten Verwechslung des Ichs haben wir noch nichts gehört.<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Kerner</hi>, über Beſeſſenſeyn. 4</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [49/0063]
unter welchen ſie eben ſo gut eine weit größere Anzahl ganz
unpaſſender hätte treffen können, gerade ſolche von ihr an-
geführt wurden, welche in einer ſchönen Beziehung zu ih-
ren Verhältniſſen oder der Lage des Geiſtes ſtehen? Wo
kommt dem Bauernmädchen dieſe Weisheit her, welche ihr
im natürlichen Zuſtand ganz fremd iſt? Am wunderbarſten
iſt aber die Verwechslung der Perſönlichkeit. Es iſt eigent-
lich ſchwer, einen Namen für dieſen Zuſtand zu finden.
Das Mädchen verliert das Bewußtſeyn, ihr „Ich“ ver-
ſchwindet oder entfernt ſich vielmehr, um einem andern
„Ich“ Platz zu machen. Ein anderer Geiſt ergreift nun
gleichſam Beſitz von dieſem Organismus, von dieſen Sinn-
werkzeugen, von dieſen Nerven und Muskeln, ſpricht mit
dieſer Kehle, denkt nun mit dieſen Gehirnnerven und zwar
auf eine ſo gewaltſame Weiſe, daß die Hälfte des Orga-
nismus dadurch wie gelähmt wird. Es iſt gerade, wie
wenn ein Stärkerer kommt und den Hausbeſitzer aus dem
Hauſe jagt und dann behaglich zum Fenſter hinausſchaut,
wie wenn es das ſeine wäre. Denn es iſt keine Bewußt-
loſigkeit, welche eintritt, ein bewußtes Ich bewohnt ohne
Unterbrechung den Körper, der Geiſt, der jetzt in ihr iſt,
weiß ſo gut — ſogar oft noch beſſer als zuvor, was um
ihn vorgeht, aber es iſt ein anderer Bewohner, der darin
haust. Und zwar iſt das Mädchen bey all’ dem nicht ver-
geſſen, er ſpricht von ihr, er weiß recht gut, daß ſie lebt,
aber er behauptet, ſie ſey nicht da, er ſey da. Und
Alles ſcheint es zu beſtätigen, daß nun ein ganz anderer,
roherer, gottloſer Bewohner in dieſe Behauſung eingezogen
iſt, der mit dem vorigen keine Aehnlichkeit hat. Wohl ſchwe-
ben dem Menſchen auch im Traume, in der Fieberhitze,
im Wahnſinne ſeltſame Täuſchungen vor, aber es iſt doch
immer daſſelbe Ich, das als der bleibende Grundton
unverändert bleibt, wie auch dieſes Ich ſich zum Kai-
ſer oder Bettler, zu Gott oder zum Gerſtenkorn geſtalten
mag — aber von einer ſo ſcharf abgetrennten, klar erkann-
ten Verwechslung des Ichs haben wir noch nichts gehört.
Kerner, über Beſeſſenſeyn. 4
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