so lange ist die Vernunft auch ermächtigt, den Maßstab der Naturgesetze geltend zu machen. Aber für das Herein- ragen sowohl der Unnatur als der Uebernatur sind jene Gesetze nicht mehr gültig, vielmehr werden sie auf die man- nigfaltigste Weise gestört.
Die Moralgesetze hingegen, obgleich sie auch für das Mittelglied gelten, erreichen doch ihre höhere Wahrheit erst in den Extremen. Das Moralgesetz verlangt eine Aus- gleichung zwischen Rechtschaffenheit und Glückseligkeit, so wie zwischen Bosheit und Unseligkeit. Diese Ausgleichung findet aber während des Lebens darum nicht statt, weil eben die Naturgesetze alle Menschen gleich stellen und von ihrem moralischen Werthe gänzlich absehen. Um so wirksamer aber ist das Moralgesetz für den bösen Willen in der Unnatur, und für den guten in der Uebernatur. Der moralische Ge- winn oder Verlust, den der Mensch während des Lebens gemacht hat, ist ein unveräußerliches Erbe der Seele und des Geistes. Denn das, was der Mensch aus Freiheit zu seinem Eigenthum gemacht hat, ist so tief in Seele und Geist verflochten, daß es durch den Tod nicht mehr davon getrennt werden kann. Das Böse ist kein Nichtiges, son- dern die moralische Schwerkraft, welche Seele und Geist in sich gefangen hält. Die Selbstsucht und Weltsucht, womit der Mensch während des Lebens sich füllt, werden nach dem Tode seine Tyrannen, die er nicht eher von sich bringt, als bis er das noch nachholt, was er im Leben versäumte, nämlich die Regeneration durch Buße und Glauben. Der Tod ist kein Uebergang zur Herrlichkeit, wie Hegel meint, sondern eine Fortsetzung des Lebens mit allen Irrthümern, Thorheiten, Neigungen und Grundsätzen, nur mit dem Un- terschied, daß die Natürlichkeit aufhört, dagegen das Mo- ralgesetz seine volle Herrschaft gewinnt. War der Geist wäh- rend des Lebens Sklave der Welt und seiner Leidenschaft, so ist er es auch noch nach dem Tode. Darum heißt es: "Ihre Werke folgen ihnen nach." Was wird denn geändert, wenn im Tode die Natürlichkeit und die sinnliche Hülle abfällt?
Kerner, über Besessenseyn. 9
ſo lange iſt die Vernunft auch ermächtigt, den Maßſtab der Naturgeſetze geltend zu machen. Aber für das Herein- ragen ſowohl der Unnatur als der Uebernatur ſind jene Geſetze nicht mehr gültig, vielmehr werden ſie auf die man- nigfaltigſte Weiſe geſtört.
Die Moralgeſetze hingegen, obgleich ſie auch für das Mittelglied gelten, erreichen doch ihre höhere Wahrheit erſt in den Extremen. Das Moralgeſetz verlangt eine Aus- gleichung zwiſchen Rechtſchaffenheit und Glückſeligkeit, ſo wie zwiſchen Bosheit und Unſeligkeit. Dieſe Ausgleichung findet aber während des Lebens darum nicht ſtatt, weil eben die Naturgeſetze alle Menſchen gleich ſtellen und von ihrem moraliſchen Werthe gänzlich abſehen. Um ſo wirkſamer aber iſt das Moralgeſetz für den böſen Willen in der Unnatur, und für den guten in der Uebernatur. Der moraliſche Ge- winn oder Verluſt, den der Menſch während des Lebens gemacht hat, iſt ein unveräußerliches Erbe der Seele und des Geiſtes. Denn das, was der Menſch aus Freiheit zu ſeinem Eigenthum gemacht hat, iſt ſo tief in Seele und Geiſt verflochten, daß es durch den Tod nicht mehr davon getrennt werden kann. Das Böſe iſt kein Nichtiges, ſon- dern die moraliſche Schwerkraft, welche Seele und Geiſt in ſich gefangen hält. Die Selbſtſucht und Weltſucht, womit der Menſch während des Lebens ſich füllt, werden nach dem Tode ſeine Tyrannen, die er nicht eher von ſich bringt, als bis er das noch nachholt, was er im Leben verſäumte, nämlich die Regeneration durch Buße und Glauben. Der Tod iſt kein Uebergang zur Herrlichkeit, wie Hegel meint, ſondern eine Fortſetzung des Lebens mit allen Irrthümern, Thorheiten, Neigungen und Grundſätzen, nur mit dem Un- terſchied, daß die Natürlichkeit aufhört, dagegen das Mo- ralgeſetz ſeine volle Herrſchaft gewinnt. War der Geiſt wäh- rend des Lebens Sklave der Welt und ſeiner Leidenſchaft, ſo iſt er es auch noch nach dem Tode. Darum heißt es: „Ihre Werke folgen ihnen nach.“ Was wird denn geändert, wenn im Tode die Natürlichkeit und die ſinnliche Hülle abfällt?
Kerner, über Beſeſſenſeyn. 9
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der Naturgeſetze geltend zu machen. Aber für das Herein-
ragen ſowohl der Unnatur als der Uebernatur ſind jene
Geſetze nicht mehr gültig, vielmehr werden ſie auf die man-
nigfaltigſte Weiſe geſtört.
Die Moralgeſetze hingegen, obgleich ſie auch für
das Mittelglied gelten, erreichen doch ihre höhere Wahrheit
erſt in den Extremen. Das Moralgeſetz verlangt eine Aus-
gleichung zwiſchen Rechtſchaffenheit und Glückſeligkeit, ſo
wie zwiſchen Bosheit und Unſeligkeit. Dieſe Ausgleichung
findet aber während des Lebens darum nicht ſtatt, weil eben
die Naturgeſetze alle Menſchen gleich ſtellen und von ihrem
moraliſchen Werthe gänzlich abſehen. Um ſo wirkſamer aber
iſt das Moralgeſetz für den böſen Willen in der Unnatur,
und für den guten in der Uebernatur. Der moraliſche Ge-
winn oder Verluſt, den der Menſch während des Lebens
gemacht hat, iſt ein unveräußerliches Erbe der Seele und
des Geiſtes. Denn das, was der Menſch aus Freiheit
zu ſeinem Eigenthum gemacht hat, iſt ſo tief in Seele und
Geiſt verflochten, daß es durch den Tod nicht mehr davon
getrennt werden kann. Das Böſe iſt kein Nichtiges, ſon-
dern die moraliſche Schwerkraft, welche Seele und Geiſt in
ſich gefangen hält. Die Selbſtſucht und Weltſucht, womit
der Menſch während des Lebens ſich füllt, werden nach
dem Tode ſeine Tyrannen, die er nicht eher von ſich bringt,
als bis er das noch nachholt, was er im Leben verſäumte,
nämlich die Regeneration durch Buße und Glauben. Der
Tod iſt kein Uebergang zur Herrlichkeit, wie Hegel meint,
ſondern eine Fortſetzung des Lebens mit allen Irrthümern,
Thorheiten, Neigungen und Grundſätzen, nur mit dem Un-
terſchied, daß die Natürlichkeit aufhört, dagegen das Mo-
ralgeſetz ſeine volle Herrſchaft gewinnt. War der Geiſt wäh-
rend des Lebens Sklave der Welt und ſeiner Leidenſchaft,
ſo iſt er es auch noch nach dem Tode. Darum heißt es: „Ihre
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/143>, abgerufen am 06.07.2024.
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