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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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schwierige Werk vollbracht war, athmete sie bedächtig auf
und sah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.

Den Brief in der Hand haltend, konnte sie jetzt füglich
gehen; doch wußte der junge Mann sie mit einer Frage
aufzuhalten, an die sich eine andere und eine dritte reihte,
und so stand Regine an derselben Stelle, bis eine gute
Stunde verflossen war, und plauderte mit ihm, der an
seinem Arbeitstische lehnte. Er frug nach ihrer Heimat
und nach den Ihrigen und sie beantwortete die Fragen
ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht
noch Niemand, seit sie unter Fremden ihr Brot verdiente,
sich so theilnehmend nach diesen Dingen erkundigt hatte.
Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Theil
des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur
die acht Kinder, Söhne und Töchter, sondern auch die
Eltern waren wohlgestaltet große Leute, ein Geschlecht,
dessen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten
Volksthumes hervorgegangen. Nicht so verhielt es sich
mit dem Seelenwesen, der Beweglichkeit, der moralischen
Widerstandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchsigen
Familie. In Handel und Wandel wußten sie sich nicht zeitig
und aufmerksam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vor¬
zubereiten und zu sichern, und statt der Noth gelassen aus
dem Wege zu gehen, ließen sie dieselbe nahe kommen und
starrten ihr rathlos in's Gesicht. Der Vater war durch
einen fallenden Waldbaum verstümmelt, die lange Mutter
voll bitterer Worte und nutzloser Anschläge; zwei Söhne

ſchwierige Werk vollbracht war, athmete ſie bedächtig auf
und ſah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.

Den Brief in der Hand haltend, konnte ſie jetzt füglich
gehen; doch wußte der junge Mann ſie mit einer Frage
aufzuhalten, an die ſich eine andere und eine dritte reihte,
und ſo ſtand Regine an derſelben Stelle, bis eine gute
Stunde verfloſſen war, und plauderte mit ihm, der an
ſeinem Arbeitstiſche lehnte. Er frug nach ihrer Heimat
und nach den Ihrigen und ſie beantwortete die Fragen
ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht
noch Niemand, ſeit ſie unter Fremden ihr Brot verdiente,
ſich ſo theilnehmend nach dieſen Dingen erkundigt hatte.
Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Theil
des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur
die acht Kinder, Söhne und Töchter, ſondern auch die
Eltern waren wohlgeſtaltet große Leute, ein Geſchlecht,
deſſen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten
Volksthumes hervorgegangen. Nicht ſo verhielt es ſich
mit dem Seelenweſen, der Beweglichkeit, der moraliſchen
Widerſtandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchſigen
Familie. In Handel und Wandel wußten ſie ſich nicht zeitig
und aufmerkſam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vor¬
zubereiten und zu ſichern, und ſtatt der Noth gelaſſen aus
dem Wege zu gehen, ließen ſie dieſelbe nahe kommen und
ſtarrten ihr rathlos in's Geſicht. Der Vater war durch
einen fallenden Waldbaum verſtümmelt, die lange Mutter
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[82/0092] ſchwierige Werk vollbracht war, athmete ſie bedächtig auf und ſah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an. Den Brief in der Hand haltend, konnte ſie jetzt füglich gehen; doch wußte der junge Mann ſie mit einer Frage aufzuhalten, an die ſich eine andere und eine dritte reihte, und ſo ſtand Regine an derſelben Stelle, bis eine gute Stunde verfloſſen war, und plauderte mit ihm, der an ſeinem Arbeitstiſche lehnte. Er frug nach ihrer Heimat und nach den Ihrigen und ſie beantwortete die Fragen ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht noch Niemand, ſeit ſie unter Fremden ihr Brot verdiente, ſich ſo theilnehmend nach dieſen Dingen erkundigt hatte. Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Theil des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur die acht Kinder, Söhne und Töchter, ſondern auch die Eltern waren wohlgeſtaltet große Leute, ein Geſchlecht, deſſen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volksthumes hervorgegangen. Nicht ſo verhielt es ſich mit dem Seelenweſen, der Beweglichkeit, der moraliſchen Widerſtandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchſigen Familie. In Handel und Wandel wußten ſie ſich nicht zeitig und aufmerkſam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vor¬ zubereiten und zu ſichern, und ſtatt der Noth gelaſſen aus dem Wege zu gehen, ließen ſie dieſelbe nahe kommen und ſtarrten ihr rathlos in's Geſicht. Der Vater war durch einen fallenden Waldbaum verſtümmelt, die lange Mutter voll bitterer Worte und nutzloſer Anſchläge; zwei Söhne

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/92>, abgerufen am 25.11.2024.