Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

geht der Mensch gleichgültig vorbei und wird erst traurig,
wenn es verschlossen ist.

Früher als gewöhnlich verließ er am Abend seine
Gesellschaft und suchte seine Wohnung auf. Da holte
er vor der Thüre, die zu seinen Zimmern führte, unver¬
sehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in
den Dachräumen hinaufstieg. Sie hielt neben dem Lichte
einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der
war ihr soeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬
schmutzt und auch etwas zerknittert worden, und sie besah
sich den Schaden, fügte aber sogleich noch einen Oelfleck
hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der
Herrschaft gegönnt war.

"Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬
gine?" fragte Erwin, indem er die Thüre aufschloß.

"Ach Gott," sagte sie, "ich soll einen Brief schreiben
und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt
ist es schon verdorben, eh' ich nur oben bin!"

"Kommen Sie mit mir herein, ich geb' Ihnen ein
anderes!" versetzte er, und sie ging mit gutem Vertrauen
mit ihm, blieb aber bescheiden an der Zimmerthür stehen,
während er ein Büchlein des schönsten Papieres zurecht
machte. "Haben Sie denn auch Tinte und Federn?"

"Etwas Tinte habe ich in einem Fläschchen, freilich
halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder ist auch
noch da!" erwiderte sie.

"So nehmen Sie hier von diesen Federn mit und

geht der Menſch gleichgültig vorbei und wird erſt traurig,
wenn es verſchloſſen iſt.

Früher als gewöhnlich verließ er am Abend ſeine
Geſellſchaft und ſuchte ſeine Wohnung auf. Da holte
er vor der Thüre, die zu ſeinen Zimmern führte, unver¬
ſehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in
den Dachräumen hinaufſtieg. Sie hielt neben dem Lichte
einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der
war ihr ſoeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬
ſchmutzt und auch etwas zerknittert worden, und ſie beſah
ſich den Schaden, fügte aber ſogleich noch einen Oelfleck
hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der
Herrſchaft gegönnt war.

„Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬
gine?“ fragte Erwin, indem er die Thüre aufſchloß.

„Ach Gott,“ ſagte ſie, „ich ſoll einen Brief ſchreiben
und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt
iſt es ſchon verdorben, eh' ich nur oben bin!“

„Kommen Sie mit mir herein, ich geb' Ihnen ein
anderes!“ verſetzte er, und ſie ging mit gutem Vertrauen
mit ihm, blieb aber beſcheiden an der Zimmerthür ſtehen,
während er ein Büchlein des ſchönſten Papieres zurecht
machte. „Haben Sie denn auch Tinte und Federn?“

„Etwas Tinte habe ich in einem Fläſchchen, freilich
halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder iſt auch
noch da!“ erwiderte ſie.

„So nehmen Sie hier von dieſen Federn mit und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0089" n="79"/>
geht der Men&#x017F;ch gleichgültig vorbei und wird er&#x017F;t traurig,<lb/>
wenn es ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Früher als gewöhnlich verließ er am Abend &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und &#x017F;uchte &#x017F;eine Wohnung auf. Da holte<lb/>
er vor der Thüre, die zu &#x017F;einen Zimmern führte, unver¬<lb/>
&#x017F;ehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in<lb/>
den Dachräumen hinauf&#x017F;tieg. Sie hielt neben dem Lichte<lb/>
einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der<lb/>
war ihr &#x017F;oeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬<lb/>
&#x017F;chmutzt und auch etwas zerknittert worden, und &#x017F;ie be&#x017F;ah<lb/>
&#x017F;ich den Schaden, fügte aber &#x017F;ogleich noch einen Oelfleck<lb/>
hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der<lb/>
Herr&#x017F;chaft gegönnt war.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬<lb/>
gine?&#x201C; fragte Erwin, indem er die Thüre auf&#x017F;chloß.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ach Gott,&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie, &#x201E;ich &#x017F;oll einen Brief &#x017F;chreiben<lb/>
und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt<lb/>
i&#x017F;t es &#x017F;chon verdorben, eh' ich nur oben bin!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Kommen Sie mit mir herein, ich geb' Ihnen ein<lb/>
anderes!&#x201C; ver&#x017F;etzte er, und &#x017F;ie ging mit gutem Vertrauen<lb/>
mit ihm, blieb aber be&#x017F;cheiden an der Zimmerthür &#x017F;tehen,<lb/>
während er ein Büchlein des &#x017F;chön&#x017F;ten Papieres zurecht<lb/>
machte. &#x201E;Haben Sie denn auch Tinte und Federn?&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Etwas Tinte habe ich in einem Flä&#x017F;chchen, freilich<lb/>
halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder i&#x017F;t auch<lb/>
noch da!&#x201C; erwiderte &#x017F;ie.</p><lb/>
          <p>&#x201E;So nehmen Sie hier von die&#x017F;en Federn mit und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0089] geht der Menſch gleichgültig vorbei und wird erſt traurig, wenn es verſchloſſen iſt. Früher als gewöhnlich verließ er am Abend ſeine Geſellſchaft und ſuchte ſeine Wohnung auf. Da holte er vor der Thüre, die zu ſeinen Zimmern führte, unver¬ ſehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in den Dachräumen hinaufſtieg. Sie hielt neben dem Lichte einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der war ihr ſoeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬ ſchmutzt und auch etwas zerknittert worden, und ſie beſah ſich den Schaden, fügte aber ſogleich noch einen Oelfleck hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der Herrſchaft gegönnt war. „Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬ gine?“ fragte Erwin, indem er die Thüre aufſchloß. „Ach Gott,“ ſagte ſie, „ich ſoll einen Brief ſchreiben und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt iſt es ſchon verdorben, eh' ich nur oben bin!“ „Kommen Sie mit mir herein, ich geb' Ihnen ein anderes!“ verſetzte er, und ſie ging mit gutem Vertrauen mit ihm, blieb aber beſcheiden an der Zimmerthür ſtehen, während er ein Büchlein des ſchönſten Papieres zurecht machte. „Haben Sie denn auch Tinte und Federn?“ „Etwas Tinte habe ich in einem Fläſchchen, freilich halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder iſt auch noch da!“ erwiderte ſie. „So nehmen Sie hier von dieſen Federn mit und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/89
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/89>, abgerufen am 09.11.2024.