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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Salome wollte ihn küssen; allein er hielt sie ab und
sagte: "Laß doch, und sage lieber etwas Feines!"

Da wurde die Abgewiesene von Röthe übergossen; sie
sprach aber schnell: "Wie man in den Wald ruft, so tönt
es heraus! Sag' mir etwas Feines vor, so werde ich
antworten!"

"Ach, die Kameele sprechen nicht!" erwiderte Drogo
unbesonnen mit einem Seufzer. Da wurde sie bleich,
lehnte sich zurück und sagte: "Wer ist ein Kameel,
mein Schatz?"

"O Liebchen," sagte er, "die ganze Stadt nennt
Dich so!"

"Und Du hältst mich also auch für eines?" fragte
sie, und er antwortete, indem er sie wieder an sich ziehen
wollte: "Sicherlich, und zwar für das reizendste, das ich
je gesehen!"

Da fühlte sich Salome von dem schärfsten Pfeil
getroffen, den es für sie geben konnte: denn sie hielt
ihre vermeintliche Klugheit für ihre eigentliche Ehre, für
ihr Palladium und ihre Hauptsache. Aber das war gut
für sie, weil sie dadurch eine Wehr und einen Halt
gewann, sich vom Verderben rettete und ihre Schwäche
gut machte.

Ohne ein ferneres Wort zu sagen, riß sie sich los,
löste die Spangen von den Knöcheln, die Spitzen vom
Halse, warf sie dem herzlosen Bräutigam vor die Füße

Salome wollte ihn küſſen; allein er hielt ſie ab und
ſagte: „Laß doch, und ſage lieber etwas Feines!“

Da wurde die Abgewieſene von Röthe übergoſſen; ſie
ſprach aber ſchnell: „Wie man in den Wald ruft, ſo tönt
es heraus! Sag' mir etwas Feines vor, ſo werde ich
antworten!“

„Ach, die Kameele ſprechen nicht!“ erwiderte Drogo
unbeſonnen mit einem Seufzer. Da wurde ſie bleich,
lehnte ſich zurück und ſagte: „Wer iſt ein Kameel,
mein Schatz?“

„O Liebchen,“ ſagte er, „die ganze Stadt nennt
Dich ſo!“

„Und Du hältſt mich alſo auch für eines?“ fragte
ſie, und er antwortete, indem er ſie wieder an ſich ziehen
wollte: „Sicherlich, und zwar für das reizendſte, das ich
je geſehen!“

Da fühlte ſich Salome von dem ſchärfſten Pfeil
getroffen, den es für ſie geben konnte: denn ſie hielt
ihre vermeintliche Klugheit für ihre eigentliche Ehre, für
ihr Palladium und ihre Hauptſache. Aber das war gut
für ſie, weil ſie dadurch eine Wehr und einen Halt
gewann, ſich vom Verderben rettete und ihre Schwäche
gut machte.

Ohne ein ferneres Wort zu ſagen, riß ſie ſich los,
löſte die Spangen von den Knöcheln, die Spitzen vom
Halſe, warf ſie dem herzloſen Bräutigam vor die Füße

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[59/0069] Salome wollte ihn küſſen; allein er hielt ſie ab und ſagte: „Laß doch, und ſage lieber etwas Feines!“ Da wurde die Abgewieſene von Röthe übergoſſen; ſie ſprach aber ſchnell: „Wie man in den Wald ruft, ſo tönt es heraus! Sag' mir etwas Feines vor, ſo werde ich antworten!“ „Ach, die Kameele ſprechen nicht!“ erwiderte Drogo unbeſonnen mit einem Seufzer. Da wurde ſie bleich, lehnte ſich zurück und ſagte: „Wer iſt ein Kameel, mein Schatz?“ „O Liebchen,“ ſagte er, „die ganze Stadt nennt Dich ſo!“ „Und Du hältſt mich alſo auch für eines?“ fragte ſie, und er antwortete, indem er ſie wieder an ſich ziehen wollte: „Sicherlich, und zwar für das reizendſte, das ich je geſehen!“ Da fühlte ſich Salome von dem ſchärfſten Pfeil getroffen, den es für ſie geben konnte: denn ſie hielt ihre vermeintliche Klugheit für ihre eigentliche Ehre, für ihr Palladium und ihre Hauptſache. Aber das war gut für ſie, weil ſie dadurch eine Wehr und einen Halt gewann, ſich vom Verderben rettete und ihre Schwäche gut machte. Ohne ein ferneres Wort zu ſagen, riß ſie ſich los, löſte die Spangen von den Knöcheln, die Spitzen vom Halſe, warf ſie dem herzloſen Bräutigam vor die Füße

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/69>, abgerufen am 09.11.2024.