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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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gesammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande
stand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des
Erwerbes geschrieben. Diese Bände enthielten durchweg
die eigenen Lebensbeschreibungen oder Briefsammlungen
vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die
Bücherreihe nur ging, so weit das Gestelle nach der Länge
des Tisches reichte, umfaßte sie doch viele Jahrhunderte,
überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe
gegangenen Lebensmeister oder Leidensschüler enthaltend.
Von den Blättern des heiligen Augustinus bis zu
Rousseau und Goethe fehlte keine der wesentlichen Be¬
kenntnißfibeln, und neben dem wilden und prahlerischen
Benvenuto Cellini duckte sich das fromme Jugendbüchlein
Jung Stillings. Arm in Arm rauschten und knisterten
die Frau von Sevigne und der jüngere Plinius einher,
hinterdrein wanderten die armen Schweizerburschen Thomas
Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann im Toggen¬
burg, der eiserne Götz schritt klirrend vorüber, mit stillem
Geisterschritt kam Dante, sein Buch vom neuen Leben in
der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutherischen
Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä
rauchte und schwelte der dreißigjährige Krieg. Ihn bil¬
deten Noth und Leiden, hohe Gelahrtheit, Gottvertrauen
und der Fleiß der Widersächer so trefflich durch und aus,
daß er zuletzt, auf der Höhe kirchlicher Aemter stehend,
ein nur in Latein würdig zu beschreibendes Dasein gewann.
In seinem Hause verkehrten Herzoge, Prinzessinnen und

geſammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande
ſtand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des
Erwerbes geſchrieben. Dieſe Bände enthielten durchweg
die eigenen Lebensbeſchreibungen oder Briefſammlungen
vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die
Bücherreihe nur ging, ſo weit das Geſtelle nach der Länge
des Tiſches reichte, umfaßte ſie doch viele Jahrhunderte,
überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe
gegangenen Lebensmeiſter oder Leidensſchüler enthaltend.
Von den Blättern des heiligen Auguſtinus bis zu
Rouſſeau und Goethe fehlte keine der weſentlichen Be¬
kenntnißfibeln, und neben dem wilden und prahleriſchen
Benvenuto Cellini duckte ſich das fromme Jugendbüchlein
Jung Stillings. Arm in Arm rauſchten und kniſterten
die Frau von Sevigné und der jüngere Plinius einher,
hinterdrein wanderten die armen Schweizerburſchen Thomas
Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann im Toggen¬
burg, der eiſerne Götz ſchritt klirrend vorüber, mit ſtillem
Geiſterſchritt kam Dante, ſein Buch vom neuen Leben in
der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutheriſchen
Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä
rauchte und ſchwelte der dreißigjährige Krieg. Ihn bil¬
deten Noth und Leiden, hohe Gelahrtheit, Gottvertrauen
und der Fleiß der Widerſächer ſo trefflich durch und aus,
daß er zuletzt, auf der Höhe kirchlicher Aemter ſtehend,
ein nur in Latein würdig zu beſchreibendes Daſein gewann.
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[40/0050] geſammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande ſtand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des Erwerbes geſchrieben. Dieſe Bände enthielten durchweg die eigenen Lebensbeſchreibungen oder Briefſammlungen vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die Bücherreihe nur ging, ſo weit das Geſtelle nach der Länge des Tiſches reichte, umfaßte ſie doch viele Jahrhunderte, überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe gegangenen Lebensmeiſter oder Leidensſchüler enthaltend. Von den Blättern des heiligen Auguſtinus bis zu Rouſſeau und Goethe fehlte keine der weſentlichen Be¬ kenntnißfibeln, und neben dem wilden und prahleriſchen Benvenuto Cellini duckte ſich das fromme Jugendbüchlein Jung Stillings. Arm in Arm rauſchten und kniſterten die Frau von Sevigné und der jüngere Plinius einher, hinterdrein wanderten die armen Schweizerburſchen Thomas Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann im Toggen¬ burg, der eiſerne Götz ſchritt klirrend vorüber, mit ſtillem Geiſterſchritt kam Dante, ſein Buch vom neuen Leben in der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutheriſchen Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä rauchte und ſchwelte der dreißigjährige Krieg. Ihn bil¬ deten Noth und Leiden, hohe Gelahrtheit, Gottvertrauen und der Fleiß der Widerſächer ſo trefflich durch und aus, daß er zuletzt, auf der Höhe kirchlicher Aemter ſtehend, ein nur in Latein würdig zu beſchreibendes Daſein gewann. In ſeinem Hauſe verkehrten Herzoge, Prinzeſſinnen und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/50>, abgerufen am 24.11.2024.