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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Er ist dort in den Orden der Redemtoristen getreten und
läuft in einem schwarzen Habit herum mit einem närri¬
schen Hut und einem Rosenkranz. Es heißt, er wolle es
zum Cardinal bringen; ich glaub' es, denn er machte ein
sehr durchtriebenes Gesicht, als ich ihn sprach. Es war
gewissermaßen der alte Leodegar und doch etwas Neues
in ihm, wie wenn seine Augen sagen würden: Kerl, dich
wollt' ich, wenn ich dich hätte und du mich nicht anbeten
würdest!"

Die Nachricht war nur zu begründet. Fast am gleichen
Tage sagte der Institutsvorsteher, als er bei Tisch die
Zeitung las, zu mir: Da steht, daß ein junger deutscher
Liguorianer aus Ihrer Heimat sich in Rom durch seine
Predigten berühmt mache. Er trägt sogar den gleichen
Familiennamen mit Ihnen! Kennen Sie ihn, Fräulein
Lucie? Sie sind aber doch nicht katholisch!

Mit tonloser Stimme erklärte ich, von alledem nichts
zu wissen, und schenkte mir möglichst gleichgültig ein Glas
Wasser ein.

Mein armer Vater holte mich nicht mehr ab. Er hatte
sich in den heißen Sommermonaten durch unvorsichtiges
Reisen ein Fieber geholt, von dem er nicht genas.

So kehrte ich vollständig verwaist in mein leeres
Haus zurück. Da ich für die Vermögensverwaltung noch
eines Vormundes bedürftig war, so bat ich meinen Oheim,
den Bruder meiner. Mutter, darum, der eben in den
Ruhestand zu treten beabsichtigte und mir einen Besuch

Er iſt dort in den Orden der Redemtoriſten getreten und
läuft in einem ſchwarzen Habit herum mit einem närri¬
ſchen Hut und einem Roſenkranz. Es heißt, er wolle es
zum Cardinal bringen; ich glaub' es, denn er machte ein
ſehr durchtriebenes Geſicht, als ich ihn ſprach. Es war
gewiſſermaßen der alte Leodegar und doch etwas Neues
in ihm, wie wenn ſeine Augen ſagen würden: Kerl, dich
wollt' ich, wenn ich dich hätte und du mich nicht anbeten
würdeſt!“

Die Nachricht war nur zu begründet. Faſt am gleichen
Tage ſagte der Inſtitutsvorſteher, als er bei Tiſch die
Zeitung las, zu mir: Da ſteht, daß ein junger deutſcher
Liguorianer aus Ihrer Heimat ſich in Rom durch ſeine
Predigten berühmt mache. Er trägt ſogar den gleichen
Familiennamen mit Ihnen! Kennen Sie ihn, Fräulein
Lucie? Sie ſind aber doch nicht katholiſch!

Mit tonloſer Stimme erklärte ich, von alledem nichts
zu wiſſen, und ſchenkte mir möglichſt gleichgültig ein Glas
Waſſer ein.

Mein armer Vater holte mich nicht mehr ab. Er hatte
ſich in den heißen Sommermonaten durch unvorſichtiges
Reiſen ein Fieber geholt, von dem er nicht genas.

So kehrte ich vollſtändig verwaiſt in mein leeres
Haus zurück. Da ich für die Vermögensverwaltung noch
eines Vormundes bedürftig war, ſo bat ich meinen Oheim,
den Bruder meiner. Mutter, darum, der eben in den
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[404/0414] Er iſt dort in den Orden der Redemtoriſten getreten und läuft in einem ſchwarzen Habit herum mit einem närri¬ ſchen Hut und einem Roſenkranz. Es heißt, er wolle es zum Cardinal bringen; ich glaub' es, denn er machte ein ſehr durchtriebenes Geſicht, als ich ihn ſprach. Es war gewiſſermaßen der alte Leodegar und doch etwas Neues in ihm, wie wenn ſeine Augen ſagen würden: Kerl, dich wollt' ich, wenn ich dich hätte und du mich nicht anbeten würdeſt!“ Die Nachricht war nur zu begründet. Faſt am gleichen Tage ſagte der Inſtitutsvorſteher, als er bei Tiſch die Zeitung las, zu mir: Da ſteht, daß ein junger deutſcher Liguorianer aus Ihrer Heimat ſich in Rom durch ſeine Predigten berühmt mache. Er trägt ſogar den gleichen Familiennamen mit Ihnen! Kennen Sie ihn, Fräulein Lucie? Sie ſind aber doch nicht katholiſch! Mit tonloſer Stimme erklärte ich, von alledem nichts zu wiſſen, und ſchenkte mir möglichſt gleichgültig ein Glas Waſſer ein. Mein armer Vater holte mich nicht mehr ab. Er hatte ſich in den heißen Sommermonaten durch unvorſichtiges Reiſen ein Fieber geholt, von dem er nicht genas. So kehrte ich vollſtändig verwaiſt in mein leeres Haus zurück. Da ich für die Vermögensverwaltung noch eines Vormundes bedürftig war, ſo bat ich meinen Oheim, den Bruder meiner. Mutter, darum, der eben in den Ruheſtand zu treten beabſichtigte und mir einen Beſuch

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/414>, abgerufen am 23.11.2024.