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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Schächtelchen, das er noch nie gesehen, und als er es
öffnete, lag auf einem Flöcklein Baumwolle ein Herz von
milchweißem Opal, das längst vom Bande gelöst, hier im
Stillen schlummerte. Am Tageslichte schillerte das Herz
in zartem Farbenspiele wie ein Schein ferner Jugend¬
zeiten.

"Welch' ein schönes Bijou!" rief Thibaut, "wollen
Sie mir das nicht schenken?"

"Was fällt Dir ein, lieber Neffe?" fragte sie ver¬
wundert, indem sie ihm das Herz aus der Hand nahm
und es mit glänzenden Augen betrachtete; "was wolltest
Du auch damit thun? Es einem anderen Frauenzimmer
schenken?"

"O nein!" sagte Thibaut, "ich würde es an meine
Uhr hängen und dabei stets meiner Tante Angelika
eingedenk sein!"

"Ich kann es Dir dennoch nicht geben," erwiderte
die Dame mit weicher Stimme, "es ist meine theuerste
Erinnerung, denn der Geliebte und Verlobte meiner
Jugend hat es mir geschenkt!"

Auf sein neugieriges Verlangen erzählte sie dem Neffen
mit vielen Worten die verjährte Liebesgeschichte mit einem
herrlichen jungen Edelmann, der voll seltener Treue und
Hingebung unter schwierigen Umständen an ihr gehangen,
sich ihretwillen geschlagen und in der Blüthe der Jahre
in der glorreichen Schlacht von Fontenay als ein tapferer
Held gefallen sei, vor mehr als dreißig Jahren. Die

Schächtelchen, das er noch nie geſehen, und als er es
öffnete, lag auf einem Flöcklein Baumwolle ein Herz von
milchweißem Opal, das längſt vom Bande gelöſt, hier im
Stillen ſchlummerte. Am Tageslichte ſchillerte das Herz
in zartem Farbenſpiele wie ein Schein ferner Jugend¬
zeiten.

„Welch' ein ſchönes Bijou!“ rief Thibaut, „wollen
Sie mir das nicht ſchenken?“

„Was fällt Dir ein, lieber Neffe?“ fragte ſie ver¬
wundert, indem ſie ihm das Herz aus der Hand nahm
und es mit glänzenden Augen betrachtete; „was wollteſt
Du auch damit thun? Es einem anderen Frauenzimmer
ſchenken?“

„O nein!“ ſagte Thibaut, „ich würde es an meine
Uhr hängen und dabei ſtets meiner Tante Angelika
eingedenk ſein!“

„Ich kann es Dir dennoch nicht geben,“ erwiderte
die Dame mit weicher Stimme, „es iſt meine theuerſte
Erinnerung, denn der Geliebte und Verlobte meiner
Jugend hat es mir geſchenkt!“

Auf ſein neugieriges Verlangen erzählte ſie dem Neffen
mit vielen Worten die verjährte Liebesgeſchichte mit einem
herrlichen jungen Edelmann, der voll ſeltener Treue und
Hingebung unter ſchwierigen Umſtänden an ihr gehangen,
ſich ihretwillen geſchlagen und in der Blüthe der Jahre
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[354/0364] Schächtelchen, das er noch nie geſehen, und als er es öffnete, lag auf einem Flöcklein Baumwolle ein Herz von milchweißem Opal, das längſt vom Bande gelöſt, hier im Stillen ſchlummerte. Am Tageslichte ſchillerte das Herz in zartem Farbenſpiele wie ein Schein ferner Jugend¬ zeiten. „Welch' ein ſchönes Bijou!“ rief Thibaut, „wollen Sie mir das nicht ſchenken?“ „Was fällt Dir ein, lieber Neffe?“ fragte ſie ver¬ wundert, indem ſie ihm das Herz aus der Hand nahm und es mit glänzenden Augen betrachtete; „was wollteſt Du auch damit thun? Es einem anderen Frauenzimmer ſchenken?“ „O nein!“ ſagte Thibaut, „ich würde es an meine Uhr hängen und dabei ſtets meiner Tante Angelika eingedenk ſein!“ „Ich kann es Dir dennoch nicht geben,“ erwiderte die Dame mit weicher Stimme, „es iſt meine theuerſte Erinnerung, denn der Geliebte und Verlobte meiner Jugend hat es mir geſchenkt!“ Auf ſein neugieriges Verlangen erzählte ſie dem Neffen mit vielen Worten die verjährte Liebesgeſchichte mit einem herrlichen jungen Edelmann, der voll ſeltener Treue und Hingebung unter ſchwierigen Umſtänden an ihr gehangen, ſich ihretwillen geſchlagen und in der Blüthe der Jahre in der glorreichen Schlacht von Fontenay als ein tapferer Held gefallen ſei, vor mehr als dreißig Jahren. Die

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/364>, abgerufen am 22.11.2024.