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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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zu schützen. Da stand sie nun vor ihm mit vor Scham
niedergeschlagenen Augen, und eine Purpurröthe wallte
sichtbar über die braunen Wangen. Uebrigens war die
Gesichtsbildung edel, wenn auch an den Schnitt alt¬
ägyptischer Frauengesichter erinnernd oder sonst an ver¬
schollene Völkerstämme alter Zeiten. Verwundert über
die vornehme Anmuth der ganzen Erscheinung legte er
die Hand unter ihr kurzes Kinn und drückte es sanft in
die Höhe, so daß sie den Kopf zurückbiegen und ihn mit
den mandelförmigen großen Augen ansehen mußte. Da
sah er sowol in diesen dunkeln Augen, als auf dem
kirschrothen Munde die stumme Klage und Trauer der
leidenden Natur, die immer das Herz des Menschen rührt,
während ihre triumphirenden Schrecken es nicht bezwingen
können. Der Mann, der seit zehn Jahren an den schönsten
und glänzendsten Frauen achtlos vorübergegangen und
für ihre Blicke unempfindlich geblieben, wurde jetzt
urplötzlich wie von einem Zauber oder einer Offenbarung
bewegt; er vermochte nicht eine Secunde der Versuchung
zu widerstehen, das stille, fremde Menschenbild in den
Arm zu nehmen und leis auf beide Wangen zu küssen.
Damit zeichnete er es sänftlich als sein Eigenthum und
schwur in seinem Innern, dasselbe niemals zu verlassen;
denn trotz der schlechten Erfahrung, die er einst gemacht,
glaubte er jetzt der Eingebung, daß dieses weibliche Wesen
ihn nicht betrüben werde.

Zugleich beschloß er auf derselben Stelle, die heidnische

zu ſchützen. Da ſtand ſie nun vor ihm mit vor Scham
niedergeſchlagenen Augen, und eine Purpurröthe wallte
ſichtbar über die braunen Wangen. Uebrigens war die
Geſichtsbildung edel, wenn auch an den Schnitt alt¬
ägyptiſcher Frauengeſichter erinnernd oder ſonſt an ver¬
ſchollene Völkerſtämme alter Zeiten. Verwundert über
die vornehme Anmuth der ganzen Erſcheinung legte er
die Hand unter ihr kurzes Kinn und drückte es ſanft in
die Höhe, ſo daß ſie den Kopf zurückbiegen und ihn mit
den mandelförmigen großen Augen anſehen mußte. Da
ſah er ſowol in dieſen dunkeln Augen, als auf dem
kirſchrothen Munde die ſtumme Klage und Trauer der
leidenden Natur, die immer das Herz des Menſchen rührt,
während ihre triumphirenden Schrecken es nicht bezwingen
können. Der Mann, der ſeit zehn Jahren an den ſchönſten
und glänzendſten Frauen achtlos vorübergegangen und
für ihre Blicke unempfindlich geblieben, wurde jetzt
urplötzlich wie von einem Zauber oder einer Offenbarung
bewegt; er vermochte nicht eine Secunde der Verſuchung
zu widerſtehen, das ſtille, fremde Menſchenbild in den
Arm zu nehmen und leis auf beide Wangen zu küſſen.
Damit zeichnete er es ſänftlich als ſein Eigenthum und
ſchwur in ſeinem Innern, daſſelbe niemals zu verlaſſen;
denn trotz der ſchlechten Erfahrung, die er einſt gemacht,
glaubte er jetzt der Eingebung, daß dieſes weibliche Weſen
ihn nicht betrüben werde.

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[312/0322] zu ſchützen. Da ſtand ſie nun vor ihm mit vor Scham niedergeſchlagenen Augen, und eine Purpurröthe wallte ſichtbar über die braunen Wangen. Uebrigens war die Geſichtsbildung edel, wenn auch an den Schnitt alt¬ ägyptiſcher Frauengeſichter erinnernd oder ſonſt an ver¬ ſchollene Völkerſtämme alter Zeiten. Verwundert über die vornehme Anmuth der ganzen Erſcheinung legte er die Hand unter ihr kurzes Kinn und drückte es ſanft in die Höhe, ſo daß ſie den Kopf zurückbiegen und ihn mit den mandelförmigen großen Augen anſehen mußte. Da ſah er ſowol in dieſen dunkeln Augen, als auf dem kirſchrothen Munde die ſtumme Klage und Trauer der leidenden Natur, die immer das Herz des Menſchen rührt, während ihre triumphirenden Schrecken es nicht bezwingen können. Der Mann, der ſeit zehn Jahren an den ſchönſten und glänzendſten Frauen achtlos vorübergegangen und für ihre Blicke unempfindlich geblieben, wurde jetzt urplötzlich wie von einem Zauber oder einer Offenbarung bewegt; er vermochte nicht eine Secunde der Verſuchung zu widerſtehen, das ſtille, fremde Menſchenbild in den Arm zu nehmen und leis auf beide Wangen zu küſſen. Damit zeichnete er es ſänftlich als ſein Eigenthum und ſchwur in ſeinem Innern, daſſelbe niemals zu verlaſſen; denn trotz der ſchlechten Erfahrung, die er einſt gemacht, glaubte er jetzt der Eingebung, daß dieſes weibliche Weſen ihn nicht betrüben werde. Zugleich beſchloß er auf derſelben Stelle, die heidniſche

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/322>, abgerufen am 25.11.2024.