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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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am Besten, auf die Lebensgefährtin auszugehen, ehe die
Tage der Arbeit und des Kampfes zurückkehrten. Nachher
sei diese Sache abgethan.

Nun bewog ihn aber sein Selbstgefühl, vielleicht der
erlittenen Beleidigung wegen und auch in der Meinung,
eine um so treuere und ergebenere Gattin zu erhalten,
dieselbe als ein gänzlich unbekannter und ärmlicher Mensch
zu suchen und zu erwerben, so daß er sie mit Ver¬
heimlichung von Namen, Rang und Vermögen sozusagen
nur seiner nackten Person verdanken würde. Er schiffte
sich also zu Rio de Janeiro, wo er Gouverneur gewesen,
in aller Stille, nur von einem Diener begleitet, ein und
begab sich nach Lissabon. Dort wohnte er unbemerkt
in einem entlegenen Gemache seines Palastes und ging
nur verkleidet aus, in die Theater, die Kirchen und auf
die öffentlichen Spaziergänge, wo es schöne Damen aus
der Hauptstadt und aus den Provinzen zu sehen gab.
Lange wollte sich nichts zeigen, was ihm besonders in die
Augen gestochen hätte, bis er eines Abends bei irgend
einem der öffentlichen Schauspiele eine junge Frau sah,
deren Schönheit und Benehmen ihm auffielen. Sie war
weder groß noch klein zu nennen und vom Kopfe bis zu
den Füßen schwarz gekleidet, den steifen weißen Ring¬
kragen ausgenommen, der nicht nur dem strengen, wohl¬
geformten Gesichte mit seinem blühweißen Kinn, sondern
auch den dicken schwarzen Lockenbündeln zu beiden Seiten
als Präsentierteller diente. Von der Brust glühte ein par

am Beſten, auf die Lebensgefährtin auszugehen, ehe die
Tage der Arbeit und des Kampfes zurückkehrten. Nachher
ſei dieſe Sache abgethan.

Nun bewog ihn aber ſein Selbſtgefühl, vielleicht der
erlittenen Beleidigung wegen und auch in der Meinung,
eine um ſo treuere und ergebenere Gattin zu erhalten,
dieſelbe als ein gänzlich unbekannter und ärmlicher Menſch
zu ſuchen und zu erwerben, ſo daß er ſie mit Ver¬
heimlichung von Namen, Rang und Vermögen ſozuſagen
nur ſeiner nackten Perſon verdanken würde. Er ſchiffte
ſich alſo zu Rio de Janeiro, wo er Gouverneur geweſen,
in aller Stille, nur von einem Diener begleitet, ein und
begab ſich nach Liſſabon. Dort wohnte er unbemerkt
in einem entlegenen Gemache ſeines Palaſtes und ging
nur verkleidet aus, in die Theater, die Kirchen und auf
die öffentlichen Spaziergänge, wo es ſchöne Damen aus
der Hauptſtadt und aus den Provinzen zu ſehen gab.
Lange wollte ſich nichts zeigen, was ihm beſonders in die
Augen geſtochen hätte, bis er eines Abends bei irgend
einem der öffentlichen Schauſpiele eine junge Frau ſah,
deren Schönheit und Benehmen ihm auffielen. Sie war
weder groß noch klein zu nennen und vom Kopfe bis zu
den Füßen ſchwarz gekleidet, den ſteifen weißen Ring¬
kragen ausgenommen, der nicht nur dem ſtrengen, wohl¬
geformten Geſichte mit ſeinem blühweißen Kinn, ſondern
auch den dicken ſchwarzen Lockenbündeln zu beiden Seiten
als Präſentierteller diente. Von der Bruſt glühte ein par

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[268/0278] am Beſten, auf die Lebensgefährtin auszugehen, ehe die Tage der Arbeit und des Kampfes zurückkehrten. Nachher ſei dieſe Sache abgethan. Nun bewog ihn aber ſein Selbſtgefühl, vielleicht der erlittenen Beleidigung wegen und auch in der Meinung, eine um ſo treuere und ergebenere Gattin zu erhalten, dieſelbe als ein gänzlich unbekannter und ärmlicher Menſch zu ſuchen und zu erwerben, ſo daß er ſie mit Ver¬ heimlichung von Namen, Rang und Vermögen ſozuſagen nur ſeiner nackten Perſon verdanken würde. Er ſchiffte ſich alſo zu Rio de Janeiro, wo er Gouverneur geweſen, in aller Stille, nur von einem Diener begleitet, ein und begab ſich nach Liſſabon. Dort wohnte er unbemerkt in einem entlegenen Gemache ſeines Palaſtes und ging nur verkleidet aus, in die Theater, die Kirchen und auf die öffentlichen Spaziergänge, wo es ſchöne Damen aus der Hauptſtadt und aus den Provinzen zu ſehen gab. Lange wollte ſich nichts zeigen, was ihm beſonders in die Augen geſtochen hätte, bis er eines Abends bei irgend einem der öffentlichen Schauſpiele eine junge Frau ſah, deren Schönheit und Benehmen ihm auffielen. Sie war weder groß noch klein zu nennen und vom Kopfe bis zu den Füßen ſchwarz gekleidet, den ſteifen weißen Ring¬ kragen ausgenommen, der nicht nur dem ſtrengen, wohl¬ geformten Geſichte mit ſeinem blühweißen Kinn, ſondern auch den dicken ſchwarzen Lockenbündeln zu beiden Seiten als Präſentierteller diente. Von der Bruſt glühte ein par

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/278>, abgerufen am 22.11.2024.