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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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"Wissen Sie, wie sie eigentlich hieß? Denn Hildeburg
wurde sie nur von Mannelin und mir genannt, wenn
wir am dritten Orte von ihr sprachen. Sonst aber hieß
sie Else Morland, später Frau Professorin Reinhart und
wird demnach Ihre Frau Mutter sein! Lebt sie noch?
Und wie geht's ihr?"

Für erwachsene junge Leute ist es immer eine gewisse
Verlegenheit, von den Liebesgeschichten zu hören, welche
der Heirath der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger
stehen ihnen so hoch, daß sie nur ungern dieselben in der
Vorzeit auf den gleichen menschlichen Wegen wandeln
sehen, auf denen sie selbst begriffen sind. Auch Reinhart
saß jetzt in nicht angenehmer Ueberraschung und war ganz
roth, da die Laune, in welcher er sich seit zwei Tagen
bewegte, sich gegen ihn selbst zu kehren schien. Ein par
Mal während der Erzählung des alten Herrn hatte es
ihm vorkommen wollen, als ob es sich um Bekanntes oder
Geahntes handle; doch war das vorübergegangen, wie
man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am
nächsten angeht. Zu der seltsamen Entdeckung trat ein
noch seltsamerer Eifer der Selbstsucht, als er bedachte,
wie nahe die Gefahr gestanden habe, daß ein anderer als
sein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre als¬
dann aus ihm, dem Sohne geworden? Und was war er
jetzt anderes als der Sohn der willkürlichsten Manneswahl
einer übermüthigen Jungfrau? Nun, Gott sei Dank, war
es wenigstens seine Mutter und sein Vater! Es hätte

Keller, Sinngedicht. 17

„Wiſſen Sie, wie ſie eigentlich hieß? Denn Hildeburg
wurde ſie nur von Mannelin und mir genannt, wenn
wir am dritten Orte von ihr ſprachen. Sonſt aber hieß
ſie Elſe Morland, ſpäter Frau Profeſſorin Reinhart und
wird demnach Ihre Frau Mutter ſein! Lebt ſie noch?
Und wie geht's ihr?“

Für erwachſene junge Leute iſt es immer eine gewiſſe
Verlegenheit, von den Liebesgeſchichten zu hören, welche
der Heirath der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger
ſtehen ihnen ſo hoch, daß ſie nur ungern dieſelben in der
Vorzeit auf den gleichen menſchlichen Wegen wandeln
ſehen, auf denen ſie ſelbſt begriffen ſind. Auch Reinhart
ſaß jetzt in nicht angenehmer Ueberraſchung und war ganz
roth, da die Laune, in welcher er ſich ſeit zwei Tagen
bewegte, ſich gegen ihn ſelbſt zu kehren ſchien. Ein par
Mal während der Erzählung des alten Herrn hatte es
ihm vorkommen wollen, als ob es ſich um Bekanntes oder
Geahntes handle; doch war das vorübergegangen, wie
man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am
nächſten angeht. Zu der ſeltſamen Entdeckung trat ein
noch ſeltſamerer Eifer der Selbſtſucht, als er bedachte,
wie nahe die Gefahr geſtanden habe, daß ein anderer als
ſein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre als¬
dann aus ihm, dem Sohne geworden? Und was war er
jetzt anderes als der Sohn der willkürlichſten Manneswahl
einer übermüthigen Jungfrau? Nun, Gott ſei Dank, war
es wenigſtens ſeine Mutter und ſein Vater! Es hätte

Keller, Sinngedicht. 17
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[257/0267] „Wiſſen Sie, wie ſie eigentlich hieß? Denn Hildeburg wurde ſie nur von Mannelin und mir genannt, wenn wir am dritten Orte von ihr ſprachen. Sonſt aber hieß ſie Elſe Morland, ſpäter Frau Profeſſorin Reinhart und wird demnach Ihre Frau Mutter ſein! Lebt ſie noch? Und wie geht's ihr?“ Für erwachſene junge Leute iſt es immer eine gewiſſe Verlegenheit, von den Liebesgeſchichten zu hören, welche der Heirath der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger ſtehen ihnen ſo hoch, daß ſie nur ungern dieſelben in der Vorzeit auf den gleichen menſchlichen Wegen wandeln ſehen, auf denen ſie ſelbſt begriffen ſind. Auch Reinhart ſaß jetzt in nicht angenehmer Ueberraſchung und war ganz roth, da die Laune, in welcher er ſich ſeit zwei Tagen bewegte, ſich gegen ihn ſelbſt zu kehren ſchien. Ein par Mal während der Erzählung des alten Herrn hatte es ihm vorkommen wollen, als ob es ſich um Bekanntes oder Geahntes handle; doch war das vorübergegangen, wie man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am nächſten angeht. Zu der ſeltſamen Entdeckung trat ein noch ſeltſamerer Eifer der Selbſtſucht, als er bedachte, wie nahe die Gefahr geſtanden habe, daß ein anderer als ſein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre als¬ dann aus ihm, dem Sohne geworden? Und was war er jetzt anderes als der Sohn der willkürlichſten Manneswahl einer übermüthigen Jungfrau? Nun, Gott ſei Dank, war es wenigſtens ſeine Mutter und ſein Vater! Es hätte Keller, Sinngedicht. 17

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/267>, abgerufen am 22.11.2024.