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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein
Schlüsselchen umdrehen und sehe die Gestalt ein zweites
verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem sie hastig ein
Packet nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier
entfaltet, in welchem ein drittes enthalten ist, das sie
wiederum auseinanderschlägt. Dies Alles sah ich im
Zwielicht des Mondes, der durch das Fenster scheint.
Und weiter sah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes
Lädchen zieht, ein Etwas aus demselben nimmt, das ein
Radirmesser sein muß; denn sie bückt sich tiefer auf das
aufgeschlagene Papier, das jetzt einen stattlichen Foliobogen
darstellt, und liest darin, liest, nachdem das Gespenst
eine Brille aufgesetzt hat, einen veritablen Nasenklemmer!
Jetzt setzt sie den Finger auf eine Stelle und fängt an,
etwas auszuradiren. Obgleich sie mir den Rücken zukehrt,
erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit
mit stärkeren Athemzügen, die in der Kehle wie boshafte
Geister einander zu drängen und zu kratzen scheinen: sie
bläst das Abgeschabte weg, hustet wie ein alter schwind¬
süchtiger Notarius publicus, bläst wieder, fährt mit dem
Finger über die radirte Stelle und schabt abermals. End¬
lich scheint die Arbeit gelungen zu sein; ein niederträchtiges,
kurzes, heiseres Gelächter mit hi, hi, hi dringt mir durch
Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke
ich doch: Hier ist einstmals ein Vertrag gefälscht, ein
Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück gestohlen worden!

Plötzlich wird das Messerchen wieder hingelegt, wo es

fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein
Schlüſſelchen umdrehen und ſehe die Geſtalt ein zweites
verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem ſie haſtig ein
Packet nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier
entfaltet, in welchem ein drittes enthalten iſt, das ſie
wiederum auseinanderſchlägt. Dies Alles ſah ich im
Zwielicht des Mondes, der durch das Fenſter ſcheint.
Und weiter ſah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes
Lädchen zieht, ein Etwas aus demſelben nimmt, das ein
Radirmeſſer ſein muß; denn ſie bückt ſich tiefer auf das
aufgeſchlagene Papier, das jetzt einen ſtattlichen Foliobogen
darſtellt, und lieſt darin, lieſt, nachdem das Geſpenſt
eine Brille aufgeſetzt hat, einen veritablen Naſenklemmer!
Jetzt ſetzt ſie den Finger auf eine Stelle und fängt an,
etwas auszuradiren. Obgleich ſie mir den Rücken zukehrt,
erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit
mit ſtärkeren Athemzügen, die in der Kehle wie boshafte
Geiſter einander zu drängen und zu kratzen ſcheinen: ſie
bläſt das Abgeſchabte weg, huſtet wie ein alter ſchwind¬
ſüchtiger Notarius publicus, bläſt wieder, fährt mit dem
Finger über die radirte Stelle und ſchabt abermals. End¬
lich ſcheint die Arbeit gelungen zu ſein; ein niederträchtiges,
kurzes, heiſeres Gelächter mit hi, hi, hi dringt mir durch
Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke
ich doch: Hier iſt einſtmals ein Vertrag gefälſcht, ein
Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück geſtohlen worden!

Plötzlich wird das Meſſerchen wieder hingelegt, wo es

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[244/0254] fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein Schlüſſelchen umdrehen und ſehe die Geſtalt ein zweites verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem ſie haſtig ein Packet nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier entfaltet, in welchem ein drittes enthalten iſt, das ſie wiederum auseinanderſchlägt. Dies Alles ſah ich im Zwielicht des Mondes, der durch das Fenſter ſcheint. Und weiter ſah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes Lädchen zieht, ein Etwas aus demſelben nimmt, das ein Radirmeſſer ſein muß; denn ſie bückt ſich tiefer auf das aufgeſchlagene Papier, das jetzt einen ſtattlichen Foliobogen darſtellt, und lieſt darin, lieſt, nachdem das Geſpenſt eine Brille aufgeſetzt hat, einen veritablen Naſenklemmer! Jetzt ſetzt ſie den Finger auf eine Stelle und fängt an, etwas auszuradiren. Obgleich ſie mir den Rücken zukehrt, erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit mit ſtärkeren Athemzügen, die in der Kehle wie boshafte Geiſter einander zu drängen und zu kratzen ſcheinen: ſie bläſt das Abgeſchabte weg, huſtet wie ein alter ſchwind¬ ſüchtiger Notarius publicus, bläſt wieder, fährt mit dem Finger über die radirte Stelle und ſchabt abermals. End¬ lich ſcheint die Arbeit gelungen zu ſein; ein niederträchtiges, kurzes, heiſeres Gelächter mit hi, hi, hi dringt mir durch Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke ich doch: Hier iſt einſtmals ein Vertrag gefälſcht, ein Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück geſtohlen worden! Plötzlich wird das Meſſerchen wieder hingelegt, wo es

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/254>, abgerufen am 25.11.2024.