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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als sie einen na߬
kalten Herbsttag hindurch auf dem Felde verweilte, um
das Einbringen von Früchten selbst zu überwachen, trug
sie eine Krankheit davon, die sie in wenigen Tagen
dahinraffte.

"Nun befand ich mich allein, aber nicht lang. Die
letzte Erbschaft, die in das unselige Haus kam, fiel mir
zu; sie betrug volle zweihunderttausend Thaler. Mit ihr
waren plötzlich auch die Brüder wieder da, scheinbar in
ordentlichen Umständen, obgleich von wilden Gewohnheiten.
Sie brachten einen Rittmeister Schwendtner mit sich, einen
hübschen und gesetzten Mann, der einen wohlthätigen Ein¬
fluß auf sie zu üben und sie förmlich im Zaume zu halten
schien, wenn sie allzusehr über die Stränge schlugen. Er
war mit Rath und That bei der Hand und voll be¬
scheidener Aufmerksamkeit, ohne das Hausrecht zu ver¬
letzen. Die Dienstboten schienen froh, einen kundigen
Mann sprechen zu hören, denn sie waren freilich nicht
mehr von der vorzüglichsten Art und verstanden selbst
nicht viel. Trotzdem blieb ein Rest von Unheimlichkeit,
der mir an Allem nicht recht zusagte, und ich befand mich
in ängstlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen
dieser Angst und inneren Verlassenheit fiel ich der Be¬
werbung des Rittmeisters, die er nun anhob, zum Opfer;
ich heirathete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein
zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine
Leidenszeit an.

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aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als ſie einen na߬
kalten Herbſttag hindurch auf dem Felde verweilte, um
das Einbringen von Früchten ſelbſt zu überwachen, trug
ſie eine Krankheit davon, die ſie in wenigen Tagen
dahinraffte.

„Nun befand ich mich allein, aber nicht lang. Die
letzte Erbſchaft, die in das unſelige Haus kam, fiel mir
zu; ſie betrug volle zweihunderttauſend Thaler. Mit ihr
waren plötzlich auch die Brüder wieder da, ſcheinbar in
ordentlichen Umſtänden, obgleich von wilden Gewohnheiten.
Sie brachten einen Rittmeiſter Schwendtner mit ſich, einen
hübſchen und geſetzten Mann, der einen wohlthätigen Ein¬
fluß auf ſie zu üben und ſie förmlich im Zaume zu halten
ſchien, wenn ſie allzuſehr über die Stränge ſchlugen. Er
war mit Rath und That bei der Hand und voll be¬
ſcheidener Aufmerkſamkeit, ohne das Hausrecht zu ver¬
letzen. Die Dienſtboten ſchienen froh, einen kundigen
Mann ſprechen zu hören, denn ſie waren freilich nicht
mehr von der vorzüglichſten Art und verſtanden ſelbſt
nicht viel. Trotzdem blieb ein Reſt von Unheimlichkeit,
der mir an Allem nicht recht zuſagte, und ich befand mich
in ängſtlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen
dieſer Angſt und inneren Verlaſſenheit fiel ich der Be¬
werbung des Rittmeiſters, die er nun anhob, zum Opfer;
ich heirathete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein
zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine
Leidenszeit an.

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[195/0205] aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als ſie einen na߬ kalten Herbſttag hindurch auf dem Felde verweilte, um das Einbringen von Früchten ſelbſt zu überwachen, trug ſie eine Krankheit davon, die ſie in wenigen Tagen dahinraffte. „Nun befand ich mich allein, aber nicht lang. Die letzte Erbſchaft, die in das unſelige Haus kam, fiel mir zu; ſie betrug volle zweihunderttauſend Thaler. Mit ihr waren plötzlich auch die Brüder wieder da, ſcheinbar in ordentlichen Umſtänden, obgleich von wilden Gewohnheiten. Sie brachten einen Rittmeiſter Schwendtner mit ſich, einen hübſchen und geſetzten Mann, der einen wohlthätigen Ein¬ fluß auf ſie zu üben und ſie förmlich im Zaume zu halten ſchien, wenn ſie allzuſehr über die Stränge ſchlugen. Er war mit Rath und That bei der Hand und voll be¬ ſcheidener Aufmerkſamkeit, ohne das Hausrecht zu ver¬ letzen. Die Dienſtboten ſchienen froh, einen kundigen Mann ſprechen zu hören, denn ſie waren freilich nicht mehr von der vorzüglichſten Art und verſtanden ſelbſt nicht viel. Trotzdem blieb ein Reſt von Unheimlichkeit, der mir an Allem nicht recht zuſagte, und ich befand mich in ängſtlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen dieſer Angſt und inneren Verlaſſenheit fiel ich der Be¬ werbung des Rittmeiſters, die er nun anhob, zum Opfer; ich heirathete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine Leidenszeit an. 13*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/205>, abgerufen am 24.11.2024.