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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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an dem sie flattern, ist gut angebunden und sie werden
uns nicht entwischen, wenn sie auch immerfort die größte
Lust bezeigen, sich unsichtbar zu machen.

Jetzt aber war es ihm, wie gesagt, unbehaglich zu
Muth geworden; in der Besorgniß um seine Augen stellte
er sich alle die guten Dinge vor, welche man mittelst der¬
selben sehen könne, und unvermerkt mischte sich darunter
die menschliche Gestalt, und zwar nicht in ihren zerleg¬
baren Bestandtheilen, sondern als Ganzes, wie sie schön
und lieblich anzusehen ist und wohllautende Worte hören
läßt. Es war ihm, als ob er sogleich viel gute Worte
hören und darauf antworten möchte, und es gelüstete ihn
plötzlich, auf das durchsichtige Meer des Lebens hinaus¬
zufahren, das Schifflein im reizenden Versuche der Frei¬
heit da oder dorthin zu steuern, wo liebliche Dinge lockten.
Aber es fiel ihm nicht der geringste Anhalt, nicht das
kleinste Verhältniß ein zur Uebung menschlicher Sitte; er
hatte sich vereinsamt und festgerannt, es blieb still und
dunkel um ihn her, es ward ihm schwül und unleidlich
und er sprang auf und warf die Fensterläden wieder weit
auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine
Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahr¬
loste Menge von Büchern stehen hatte, die von den halb¬
vergessenen menschlichen Dingen handelten. Er zog einen
Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig
aus und sagte: Komm, tapferer Lessing! es führt dich
zwar jede Wäscherin im Munde, aber ohne eine Ahnung

an dem ſie flattern, iſt gut angebunden und ſie werden
uns nicht entwiſchen, wenn ſie auch immerfort die größte
Luſt bezeigen, ſich unſichtbar zu machen.

Jetzt aber war es ihm, wie geſagt, unbehaglich zu
Muth geworden; in der Beſorgniß um ſeine Augen ſtellte
er ſich alle die guten Dinge vor, welche man mittelſt der¬
ſelben ſehen könne, und unvermerkt miſchte ſich darunter
die menſchliche Geſtalt, und zwar nicht in ihren zerleg¬
baren Beſtandtheilen, ſondern als Ganzes, wie ſie ſchön
und lieblich anzuſehen iſt und wohllautende Worte hören
läßt. Es war ihm, als ob er ſogleich viel gute Worte
hören und darauf antworten möchte, und es gelüſtete ihn
plötzlich, auf das durchſichtige Meer des Lebens hinaus¬
zufahren, das Schifflein im reizenden Verſuche der Frei¬
heit da oder dorthin zu ſteuern, wo liebliche Dinge lockten.
Aber es fiel ihm nicht der geringſte Anhalt, nicht das
kleinſte Verhältniß ein zur Uebung menſchlicher Sitte; er
hatte ſich vereinſamt und feſtgerannt, es blieb ſtill und
dunkel um ihn her, es ward ihm ſchwül und unleidlich
und er ſprang auf und warf die Fenſterläden wieder weit
auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine
Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahr¬
loſte Menge von Büchern ſtehen hatte, die von den halb¬
vergeſſenen menſchlichen Dingen handelten. Er zog einen
Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig
aus und ſagte: Komm, tapferer Leſſing! es führt dich
zwar jede Wäſcherin im Munde, aber ohne eine Ahnung

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[7/0017] an dem ſie flattern, iſt gut angebunden und ſie werden uns nicht entwiſchen, wenn ſie auch immerfort die größte Luſt bezeigen, ſich unſichtbar zu machen. Jetzt aber war es ihm, wie geſagt, unbehaglich zu Muth geworden; in der Beſorgniß um ſeine Augen ſtellte er ſich alle die guten Dinge vor, welche man mittelſt der¬ ſelben ſehen könne, und unvermerkt miſchte ſich darunter die menſchliche Geſtalt, und zwar nicht in ihren zerleg¬ baren Beſtandtheilen, ſondern als Ganzes, wie ſie ſchön und lieblich anzuſehen iſt und wohllautende Worte hören läßt. Es war ihm, als ob er ſogleich viel gute Worte hören und darauf antworten möchte, und es gelüſtete ihn plötzlich, auf das durchſichtige Meer des Lebens hinaus¬ zufahren, das Schifflein im reizenden Verſuche der Frei¬ heit da oder dorthin zu ſteuern, wo liebliche Dinge lockten. Aber es fiel ihm nicht der geringſte Anhalt, nicht das kleinſte Verhältniß ein zur Uebung menſchlicher Sitte; er hatte ſich vereinſamt und feſtgerannt, es blieb ſtill und dunkel um ihn her, es ward ihm ſchwül und unleidlich und er ſprang auf und warf die Fenſterläden wieder weit auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahr¬ loſte Menge von Büchern ſtehen hatte, die von den halb¬ vergeſſenen menſchlichen Dingen handelten. Er zog einen Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig aus und ſagte: Komm, tapferer Leſſing! es führt dich zwar jede Wäſcherin im Munde, aber ohne eine Ahnung

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/17>, abgerufen am 22.11.2024.