Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

zehn Uhr vorüber sein, hörte ich an der Flurthüre sachte
klingeln, so daß die Glocke nur einen einzigen Ton von
sich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der
inwendig steckende Schlüssel umgedreht und die Thüre
geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder
Schrei ausgestoßen wurde. Da ging ich, immer horchend,
nach meiner Thüre und machte sie auf, um zu sehen,
was es denn so spät noch gebe. In diesem Augenblicke
aber sah ich einen Lichtschein verschwinden und die Flur¬
thüre sich schließen, und der Schlüssel wurde zweimal
gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich
doch einigermaßen besorgt war. Ich hörte nur noch ein
kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der
inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬
nehmen konnte. Endlich dachte ich, es müsse die Köchin
oder das jüngste Mädchen gewesen sein, das noch einen
Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging also wieder
in mein Zimmer und bald darauf schlafen. Vor Tages¬
anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen
Hundes, welchen die über uns wohnende Herrschaft auf
ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre
gehen; ernstlich beunruhigt, stellte ich mich schnell auf die
Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und sah hinaus.
Ein großer Mann, höher als Sie sind, Herr Reinhart,
ging nach der Treppe zu, mit schwerem Gange, obgleich
er so behutsam als möglich auftrat. Ich konnte aber
nichts Deutliches von ihm sehen, es war eben nur wie

zehn Uhr vorüber ſein, hörte ich an der Flurthüre ſachte
klingeln, ſo daß die Glocke nur einen einzigen Ton von
ſich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der
inwendig ſteckende Schlüſſel umgedreht und die Thüre
geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder
Schrei ausgeſtoßen wurde. Da ging ich, immer horchend,
nach meiner Thüre und machte ſie auf, um zu ſehen,
was es denn ſo ſpät noch gebe. In dieſem Augenblicke
aber ſah ich einen Lichtſchein verſchwinden und die Flur¬
thüre ſich ſchließen, und der Schlüſſel wurde zweimal
gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich
doch einigermaßen beſorgt war. Ich hörte nur noch ein
kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der
inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬
nehmen konnte. Endlich dachte ich, es müſſe die Köchin
oder das jüngſte Mädchen geweſen ſein, das noch einen
Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging alſo wieder
in mein Zimmer und bald darauf ſchlafen. Vor Tages¬
anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen
Hundes, welchen die über uns wohnende Herrſchaft auf
ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre
gehen; ernſtlich beunruhigt, ſtellte ich mich ſchnell auf die
Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und ſah hinaus.
Ein großer Mann, höher als Sie ſind, Herr Reinhart,
ging nach der Treppe zu, mit ſchwerem Gange, obgleich
er ſo behutſam als möglich auftrat. Ich konnte aber
nichts Deutliches von ihm ſehen, es war eben nur wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0133" n="123"/>
zehn Uhr vorüber &#x017F;ein, hörte ich an der Flurthüre &#x017F;achte<lb/>
klingeln, &#x017F;o daß die Glocke nur einen einzigen Ton von<lb/>
&#x017F;ich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der<lb/>
inwendig &#x017F;teckende Schlü&#x017F;&#x017F;el umgedreht und die Thüre<lb/>
geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder<lb/>
Schrei ausge&#x017F;toßen wurde. Da ging ich, immer horchend,<lb/>
nach meiner Thüre und machte &#x017F;ie auf, um zu &#x017F;ehen,<lb/>
was es denn &#x017F;o &#x017F;pät noch gebe. In die&#x017F;em Augenblicke<lb/>
aber &#x017F;ah ich einen Licht&#x017F;chein ver&#x017F;chwinden und die Flur¬<lb/>
thüre &#x017F;ich &#x017F;chließen, und der Schlü&#x017F;&#x017F;el wurde zweimal<lb/>
gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich<lb/>
doch einigermaßen be&#x017F;orgt war. Ich hörte nur noch ein<lb/>
kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der<lb/>
inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬<lb/>
nehmen konnte. Endlich dachte ich, es mü&#x017F;&#x017F;e die Köchin<lb/>
oder das jüng&#x017F;te Mädchen gewe&#x017F;en &#x017F;ein, das noch einen<lb/>
Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging al&#x017F;o wieder<lb/>
in mein Zimmer und bald darauf &#x017F;chlafen. Vor Tages¬<lb/>
anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen<lb/>
Hundes, welchen die über uns wohnende Herr&#x017F;chaft auf<lb/>
ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre<lb/>
gehen; ern&#x017F;tlich beunruhigt, &#x017F;tellte ich mich &#x017F;chnell auf die<lb/>
Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und &#x017F;ah hinaus.<lb/>
Ein großer Mann, höher als Sie &#x017F;ind, Herr Reinhart,<lb/>
ging nach der Treppe zu, mit &#x017F;chwerem Gange, obgleich<lb/>
er &#x017F;o behut&#x017F;am als möglich auftrat. Ich konnte aber<lb/>
nichts Deutliches von ihm &#x017F;ehen, es war eben nur wie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0133] zehn Uhr vorüber ſein, hörte ich an der Flurthüre ſachte klingeln, ſo daß die Glocke nur einen einzigen Ton von ſich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der inwendig ſteckende Schlüſſel umgedreht und die Thüre geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder Schrei ausgeſtoßen wurde. Da ging ich, immer horchend, nach meiner Thüre und machte ſie auf, um zu ſehen, was es denn ſo ſpät noch gebe. In dieſem Augenblicke aber ſah ich einen Lichtſchein verſchwinden und die Flur¬ thüre ſich ſchließen, und der Schlüſſel wurde zweimal gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich doch einigermaßen beſorgt war. Ich hörte nur noch ein kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬ nehmen konnte. Endlich dachte ich, es müſſe die Köchin oder das jüngſte Mädchen geweſen ſein, das noch einen Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging alſo wieder in mein Zimmer und bald darauf ſchlafen. Vor Tages¬ anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen Hundes, welchen die über uns wohnende Herrſchaft auf ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre gehen; ernſtlich beunruhigt, ſtellte ich mich ſchnell auf die Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und ſah hinaus. Ein großer Mann, höher als Sie ſind, Herr Reinhart, ging nach der Treppe zu, mit ſchwerem Gange, obgleich er ſo behutſam als möglich auftrat. Ich konnte aber nichts Deutliches von ihm ſehen, es war eben nur wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/133
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/133>, abgerufen am 27.11.2024.