Geburtsfest zu begehen. Die Amme des Kindleins, in grünen, mit goldenen Vögeln gestickten Atlas gekleidet, sei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen silbernen Wagen gesetzt worden, welchem hundert fremde Könige hätten folgen müssen nebst unendlichen Würdenträgern, Priestern und Kriegern. Und so sei der Zug unter dem Schalle der Posaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬ gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine Brücke gefahren sei, unter der sich eine trübe Lache befunden, habe die Kröte das schöne Sumpfwasser gewittert und sei vom Schooße der Amme hinunter gesprungen und nicht mehr gesehen worden. Auf diese Art dachte die Sage den Nero am allerärgsten zu brandmarken, und sie knüpfte an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der That hat die Wuth, sich die Attribute des andern Geschlechts anzueignen, immer etwas Neronisches; möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf springen!
Die Malerin besaß mehr Männer- als Frauenkleider; wenn sie jene auch nicht am Tage tragen durfte, so zog sie dieselben um so häufiger des Nachts an und streifte so in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle, bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer allmälig eintretenden größeren Corpulenz sich zuweilen in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer unter das Volk zu gehen und die unauslöschliche Neu¬ gierde zu befriedigen.
Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet, ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern, Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬ gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches; möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen!
Die Malerin beſaß mehr Männer- als Frauenkleider; wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle, bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬ gierde zu befriedigen.
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Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in
grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet,
ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen
Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige
hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern,
Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem
Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬
gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine
Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache
befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert
und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und
nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage
den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte
an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des
andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches;
möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen!
Die Malerin beſaß mehr Männer- als Frauenkleider;
wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog
ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte
ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle,
bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer
allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen
in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem
geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer
unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/116>, abgerufen am 24.11.2024.
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