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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬
gen, daß ich beim besten Willen jetzt nicht hätte
eine Ausnahme machen können, auch wenn es
sich geschickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬
ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für diese
Person, war in meinem Herzen sehr gut auf sie
zu sprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich
meine schlechten Ansichten von den Frauen und
dachte mir, es müßte doch nicht so übel mit
ihnen stehen, wenigstens sollten sie um dieser
Einen willen von nun an mehr Gnade finden
bei mir. Ich war sehr froh, wenn Lydia zu¬
gegen war oder wenn ich Veranlassung fand,
mich dahin zu verfügen, wo sie eben war; doch
that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als
im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬
mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬
chen Raume mit ihr befand, ohne einen bestimm¬
ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte
überhaupt eine solche Ruhe in mir, wie das
kühle Meerwasser, wenn kein Wind sich regt und
die Sonne obenhin darauf scheint."

"Dies verhielt sich so ungefähr ein halbes
Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich

Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬
gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte
eine Ausnahme machen können, auch wenn es
ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬
ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe
Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie
zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich
meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und
dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit
ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer
Einen willen von nun an mehr Gnade finden
bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬
gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand,
mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch
that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als
im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬
mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬
chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬
ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte
überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das
kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und
die Sonne obenhin darauf ſcheint.«

»Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes
Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich

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[57/0069] Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬ gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte eine Ausnahme machen können, auch wenn es ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬ ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer Einen willen von nun an mehr Gnade finden bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬ gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand, mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬ mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬ chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬ ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und die Sonne obenhin darauf ſcheint.« »Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/69>, abgerufen am 24.11.2024.