Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬ gen, daß ich beim besten Willen jetzt nicht hätte eine Ausnahme machen können, auch wenn es sich geschickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬ ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für diese Person, war in meinem Herzen sehr gut auf sie zu sprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine schlechten Ansichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht so übel mit ihnen stehen, wenigstens sollten sie um dieser Einen willen von nun an mehr Gnade finden bei mir. Ich war sehr froh, wenn Lydia zu¬ gegen war oder wenn ich Veranlassung fand, mich dahin zu verfügen, wo sie eben war; doch that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬ mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬ chen Raume mit ihr befand, ohne einen bestimm¬ ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine solche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwasser, wenn kein Wind sich regt und die Sonne obenhin darauf scheint."
"Dies verhielt sich so ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich
Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬ gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte eine Ausnahme machen können, auch wenn es ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬ ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer Einen willen von nun an mehr Gnade finden bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬ gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand, mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬ mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬ chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬ ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und die Sonne obenhin darauf ſcheint.«
»Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0069"n="57"/>
Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬<lb/>
gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte<lb/>
eine Ausnahme machen können, auch wenn es<lb/>ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬<lb/>
ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe<lb/>
Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie<lb/>
zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich<lb/>
meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und<lb/>
dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit<lb/>
ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer<lb/>
Einen willen von nun an mehr Gnade finden<lb/>
bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬<lb/>
gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand,<lb/>
mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch<lb/>
that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als<lb/>
im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬<lb/>
mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬<lb/>
chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬<lb/>
ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte<lb/>
überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das<lb/>
kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und<lb/>
die Sonne obenhin darauf ſcheint.«</p><lb/><p>»Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes<lb/>
Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[57/0069]
Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬
gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte
eine Ausnahme machen können, auch wenn es
ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬
ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe
Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie
zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich
meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und
dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit
ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer
Einen willen von nun an mehr Gnade finden
bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬
gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand,
mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch
that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als
im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬
mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬
chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬
ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte
überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das
kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und
die Sonne obenhin darauf ſcheint.«
»Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes
Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/69>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.