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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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"Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein solches
hernehmt, sagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr
keine vergeblichen Worte schwatzt!"

"Es ist auch schon gefunden, wie für uns
gemacht; in einem Walde nicht weit von hier
sitzt ein zwanzigjähriger Jägerssohn, welcher noch
kein Weib angesehen hat; denn er ist blind ge¬
boren. Deswegen ist er auch zu Nichts zu ge¬
brauchen, als zum Garnflechten und hat vor
einigen Tagen ein neues, sehr schönes Schne¬
pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der
alte Jäger es zum ersten Male ausspannen
wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur
Sünde verlocken wollte; es war aber so häßlich,
daß der alte Mann voll Schreckens davon lief
und das Garn am Boden liegen ließ. Darum
ist ein Thau darauf gefallen, ohne daß sich eine
Schnepfe fing, und war also eine gute Hand¬
lung daran Schuld. Als er des andern Tages
hinging, um das Garn abermals auszuspannen,
kam eben ein Reiter daher, welcher einen schwe¬
ren Mantelsack hinter sich hatte; in diesem war
ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein
Goldstück auf die Erde fiel. Da ließ der Jä¬

33 *

»Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein ſolches
hernehmt, ſagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr
keine vergeblichen Worte ſchwatzt!«

»Es iſt auch ſchon gefunden, wie für uns
gemacht; in einem Walde nicht weit von hier
ſitzt ein zwanzigjähriger Jägersſohn, welcher noch
kein Weib angeſehen hat; denn er iſt blind ge¬
boren. Deswegen iſt er auch zu Nichts zu ge¬
brauchen, als zum Garnflechten und hat vor
einigen Tagen ein neues, ſehr ſchönes Schne¬
pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der
alte Jäger es zum erſten Male ausſpannen
wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur
Sünde verlocken wollte; es war aber ſo häßlich,
daß der alte Mann voll Schreckens davon lief
und das Garn am Boden liegen ließ. Darum
iſt ein Thau darauf gefallen, ohne daß ſich eine
Schnepfe fing, und war alſo eine gute Hand¬
lung daran Schuld. Als er des andern Tages
hinging, um das Garn abermals auszuſpannen,
kam eben ein Reiter daher, welcher einen ſchwe¬
ren Mantelſack hinter ſich hatte; in dieſem war
ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein
Goldſtück auf die Erde fiel. Da ließ der Jä¬

33 *
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[515/0527] »Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein ſolches hernehmt, ſagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr keine vergeblichen Worte ſchwatzt!« »Es iſt auch ſchon gefunden, wie für uns gemacht; in einem Walde nicht weit von hier ſitzt ein zwanzigjähriger Jägersſohn, welcher noch kein Weib angeſehen hat; denn er iſt blind ge¬ boren. Deswegen iſt er auch zu Nichts zu ge¬ brauchen, als zum Garnflechten und hat vor einigen Tagen ein neues, ſehr ſchönes Schne¬ pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der alte Jäger es zum erſten Male ausſpannen wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur Sünde verlocken wollte; es war aber ſo häßlich, daß der alte Mann voll Schreckens davon lief und das Garn am Boden liegen ließ. Darum iſt ein Thau darauf gefallen, ohne daß ſich eine Schnepfe fing, und war alſo eine gute Hand¬ lung daran Schuld. Als er des andern Tages hinging, um das Garn abermals auszuſpannen, kam eben ein Reiter daher, welcher einen ſchwe¬ ren Mantelſack hinter ſich hatte; in dieſem war ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Goldſtück auf die Erde fiel. Da ließ der Jä¬ 33 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/527>, abgerufen am 30.04.2024.