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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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so war der Stab sogleich über sie gebrochen, da
sie das noch viel übler nahm und daran eine
schnöde und nackte Rücksichtslosigkeit und Ei¬
genliebe zu erkennen glaubte. So kam es,
daß sie, welche ein reines und nur ihrer Person
hingegebenes Herz suchte, zuletzt von lauter ver¬
stellten, listigen und eigensüchtigen Freiersleuten
umgeben war, aus denen sie nie klug wurde
und die ihr das Leben verbitterten. Eines Ta¬
ges fühlte sie sich so mißmuthig und trostlos,
daß sie ihren ganzen Hof aus dem Hause wies,
dasselbe zuschloß und nach Mailand verreis'te,
wo sie eine Base hatte. Als sie über den St.
Gotthard ritt auf einem Eselein, war ihre Ge¬
sinnung so schwarz und schaurig, wie das wilde
Gestein, das sich aus den Abgründen empor
thürmte, und sie fühlte die heftigste Versuchung,
sich von der Teufelsbrücke in die tobenden Ge¬
wässer der Reuß hinabzustürzen. Nur mit der
größten Mühe gelang es den zwei Mägden,
die sie bei sich hatte, und die ich selbst noch
gekannt habe, welche aber nun schon lange todt
sind, und dem Führer, sie zu beruhigen und von
der finstern Anwandlung abzubringen. Doch

ſo war der Stab ſogleich über ſie gebrochen, da
ſie das noch viel übler nahm und daran eine
ſchnöde und nackte Rückſichtsloſigkeit und Ei¬
genliebe zu erkennen glaubte. So kam es,
daß ſie, welche ein reines und nur ihrer Perſon
hingegebenes Herz ſuchte, zuletzt von lauter ver¬
ſtellten, liſtigen und eigenſüchtigen Freiersleuten
umgeben war, aus denen ſie nie klug wurde
und die ihr das Leben verbitterten. Eines Ta¬
ges fühlte ſie ſich ſo mißmuthig und troſtlos,
daß ſie ihren ganzen Hof aus dem Hauſe wies,
daſſelbe zuſchloß und nach Mailand verreiſ’te,
wo ſie eine Baſe hatte. Als ſie über den St.
Gotthard ritt auf einem Eſelein, war ihre Ge¬
ſinnung ſo ſchwarz und ſchaurig, wie das wilde
Geſtein, das ſich aus den Abgründen empor
thürmte, und ſie fühlte die heftigſte Verſuchung,
ſich von der Teufelsbrücke in die tobenden Ge¬
wäſſer der Reuß hinabzuſtürzen. Nur mit der
größten Mühe gelang es den zwei Mägden,
die ſie bei ſich hatte, und die ich ſelbſt noch
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ſind, und dem Führer, ſie zu beruhigen und von
der finſtern Anwandlung abzubringen. Doch

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[482/0494] ſo war der Stab ſogleich über ſie gebrochen, da ſie das noch viel übler nahm und daran eine ſchnöde und nackte Rückſichtsloſigkeit und Ei¬ genliebe zu erkennen glaubte. So kam es, daß ſie, welche ein reines und nur ihrer Perſon hingegebenes Herz ſuchte, zuletzt von lauter ver¬ ſtellten, liſtigen und eigenſüchtigen Freiersleuten umgeben war, aus denen ſie nie klug wurde und die ihr das Leben verbitterten. Eines Ta¬ ges fühlte ſie ſich ſo mißmuthig und troſtlos, daß ſie ihren ganzen Hof aus dem Hauſe wies, daſſelbe zuſchloß und nach Mailand verreiſ’te, wo ſie eine Baſe hatte. Als ſie über den St. Gotthard ritt auf einem Eſelein, war ihre Ge¬ ſinnung ſo ſchwarz und ſchaurig, wie das wilde Geſtein, das ſich aus den Abgründen empor thürmte, und ſie fühlte die heftigſte Verſuchung, ſich von der Teufelsbrücke in die tobenden Ge¬ wäſſer der Reuß hinabzuſtürzen. Nur mit der größten Mühe gelang es den zwei Mägden, die ſie bei ſich hatte, und die ich ſelbſt noch gekannt habe, welche aber nun ſchon lange todt ſind, und dem Führer, ſie zu beruhigen und von der finſtern Anwandlung abzubringen. Doch

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/494>, abgerufen am 22.11.2024.